Flugasche
Leute, die ihre Situation nicht mehr empfinden und auch gar nicht darüber nachdenken, sind vielleicht ehrlicher?«
Luise verzieht ungeduldig ihren Mund. »Nun stell dich nicht so an. Natürlich meine ich das nicht. Aber du kannst nicht immer den verzweifelten Helden spielen, wenn du eigentlich nur tust, was du sowieso machen willst. Du willst schreiben, na bitte, du schreibst. Du willst ehrlich schreiben, also, wer hindert dich?«
Zum Beweis schlägt Luise mit der flachen Hand auf mein Manuskript. »Du willst nicht ans Fließband. Keiner zwingt dich. Du willst dich anlegen, du willst zu den kritischen Geistern gehören. Das liegt auch in deinem Wesen. Gut, keine Gesellschaft kommt ohne ihre Kritiker aus. Aber dann kämpfe und hör auf zu jammern. Das sind nun mal die vielzitierten Mühen der Ebene, und kein Mensch hat uns versprochen, daß sie ausbleiben. Wenn ich nicht tief überzeugt wäre, daß unsere Mühe sich lohnt, auch wenn es länger dauert, als wir geglaubt haben, wäre ich längst nicht mehr hier. Hör mal, ich hab noch einen anständigen Beruf gelernt, ich kann schneidern. Aber ich glaube fest an den Sieg des Kommunismus, so deutlich muß ich dir das mal sagen, auch wenn du es vielleicht für eine Phrase hältst.«
Ich denke an Werner Grellmann, der das Wort glauben nicht hören konnte, ohne die Brauen hochzuziehen.
»Glauben«, sage ich, »was heißt glauben?«
Luise überhört die Frage, steht auf, sieht im Vorübergehen in den rahmenlosen Spiegel an der Wand, ordnet einige Haarsträhnen.
»Erwartest du, nur weil wir unser bißchen Sozialismus haben, müßten dir die Leute glücklich um den Hals fallen und schreien: Seht nur, da kommt unsre liebe Josefa, die uns immer so schön kritisiert und beschimpft?«
Jetzt hat Luises schauspielerische Neigung gewonnen. Den letzten Satz hat sie schon szenisch untermalt, hochgerissene Arme, schrille Stimme. Bestimmt würde sie mir jetzt gerne ausführlich vorspielen, wie sich die Märtyrerin Josefa die Huldigung der beschimpften Menge vorstellt.
Mit einundzwanzig Jahren hat Luise einmal die Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Schauspielschule bestanden, wenn das Ganze auch nur ein Versehen war. Das einjährige Bestehen der Schule sollte in einer Reportage gewürdigt werden, und das Zentralorgan beauftragte seine jüngste Reporterin, Luise. Es gibt wenige Möglichkeiten für einen Reporter, anonym aufzutreten, Situationen und Stimmungen unverfälscht zu erleben, womöglich als Betroffener der Ereignisse, über die er berichten soll. Die Schauspielschule war so eine Möglichkeit. Luise meldete sich als Bewerberin. Sie war schlank, zart, blond, hübsch, obwohl sie auch damals schon eine übermäßig spitze Nase hatte. Sie trug immer einen hellen Trenchcoat und eine schwarze Baskenmütze. Rein äußerlich also eine gesuchte Erscheinung für den deutschen Nachkriegsfilm. Sie hatte sich auf keine Rolle vorbereitet und mußte darum ihre Talentprobe in Form von Etüden ablegen.
Sie solle sich einmal vorstellen, erklärte ihr ein dicker, behender Mann mit Schnurrbart, sie sei ein junges Mädchen, das entsetzlich verliebt sei in einen jungen Mann. Die Eltern billigten diese Verbindung nicht. Darum würde es, das junge Mädchen, ihren Eltern durchbrennen. Besagter junger Mann aber würde sie nach kurzer Zeit sitzenlassen. Das junge Mädchen, dargestellt von Luise, nun einsam, obdachlos, entzwei mit den geliebten Eltern, kehrt reumütig und beschämt zurück ins Elternhaus. Heimlich schleicht sie sich in die vertraute Wohnung und begegnet dem Vater. Und diesen die Zukunft entscheidenden Augenblick sollte Luise der warmherzig lächelnden Jury vorspielen.
Luise erzählte uns die Geschichte einmal nach einer Planungssitzung, als wir alle erschöpft und zermartert von Wettbewerbsvorhaben, Haupt- und Nebenaufgaben auf den Stühlen hingen. Während ihrer Erzählung sprang Luise plötzlich auf. »Also, ihr müßt euch vorstellen, da unten saßen die und grinsten mich an wie eine Kranke.« Sie demonstrierte das Grinsen, gefletschte Zähne, unnatürliche Fältchen um die Augen. »Da müßt ihr euch die Bühne vorstellen.« Luise wies auf den freien Raum vor der Tür. »Ich komme also rein.« Sie deutete Tür öffnen und Tür schließen an. Den Zeigefinger vor den Mund gelegt, die Schultern eingezogen, schlich sie auf Zehenspitzen einige Schritte vorwärts. Plötzlich erstarrte sie, blickte sich ruckartig nach allen Seiten um, legte die hohle Hand ans Ohr und rief mit hoher
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