Flugasche
möglich war.
Zu wem möchten Sie, den Ausweis bitte, sagte der Beamte und sah dabei auf den Spalt zwischen der Scheibe und dem Holz, durch den Josefa ihren Ausweis reichen sollte. Der Beamte, dessen Profil Josefa erkennen konnte, wenn er sich nach vorn beugte, um zum Beispiel Josefas Ausweis zu kontrollieren, dessen Gesicht aber, sobald er sich aufrichtete und sich Josefa zuwandte, zwischen Augen und Mund durch das Sieb verdeckt war, wählte eine Telefonnummer. Die Besucherin für den zuständigen Genossen, kündigte er an. Es gehörte zu Josefas Beruf, sich anzumelden, kontrolliert zu werden, vorgelassen oder abgewiesen. In der Regel verfolgte sie den Ablauf solcher Vorgänge mit Gleichmut, der sich vor dem Beamten mit dem Sieb im Gesicht nicht einstellen wollte. Sie hatte alle möglichen Vorwürfe bedacht, mit denen der zuständige Genosse sie bedenken könnte; sie hatte alle Argumente geordnet, die sie zur Verteidigung, wenn nötig auch zum Angriff aufbieten würde. Sie hatte mit Christian mehrere Varianten ihres Gesprächs mit dem zuständigen Genossen geprobt. Zweimal befand Christian, als zuständiger Genosse müsse er das Gespräch beenden und Josefa des Raumes verweisen, weil sie sich im Sinne eines unnachsichtigen zuständigen Genossen geradezu staatsfeindlich geäußert hätte. Ein drittes Gespräch unterbrach Christian, weil selbst er Josefas anmaßende Naivität für lächerlich hielt. Du redest wie ein diplomierter Jungpionier, sagte er. Den vierten Versuch lobte Christian, aber Josefa verstand nicht, warum. Die Exerzitien hatten sie eher verunsichert als beruhigt.
Der zuständige Genosse hatte seine Entscheidung getroffen, exakt und unumstößlich hatte er sein Nein durch Strutzer übermitteln lassen. Selbst Luise hatte aufgegeben, nun sei Schluß, hatte sie gesagt, und: schade. Josefa wußte nicht, was es jetzt noch zu besprechen gab zwischen ihr und dem zuständigen Genossen.
Der Beamte schob durch den Schlitz unterhalb der Glasscheibe einen Schein, der Josefa zum Passieren des Haupteingangs berechtigte, und sagte, der Genosse erwarte sie, Eingang um die Ecke. Das Hauptportal befand sich an der Breitseite des Baus in sechs oder sieben Meter Höhe, die durch eine etwa zwanzig Meter breite Treppe überwunden wurde. In der hohen, mit Teppichen und Porträts geschmückten Eingangshalle verglich ein Soldat sorgfältig Josefa mit ihrem Ausweis und den Ausweis mit dem Passierschein, durchblätterte jede Seite sorgfältig und ernst. Der Soldat gab Josefa den Ausweis und den Schein zurück, legte die rechte Hand an den Mützenschirm, sagte nichts. In der hinteren rechten Ecke des Foyers fand Josefa den Paternoster. Josefa konnte nicht Paternoster fahren. Sooft sie dazu gezwungen war, stieg sie zu früh ein und zu früh aus, und wenn sie sich bemühte, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, verpaßte sie ihn und mußte auf die nächste Kabine warten oder eine Etage zurückfahren, was sie noch einmal vor die gleichen Schwierigkeiten stellte. Die Kabine schob sich langsam aus dem Schacht. Josefa wartete. Noch nicht. Erst wenn die Plattform der Kabine sich auf eine Ebene mit dem Boden unter ihren Füßen geschoben hatte, mußte sie springen, gleich, jetzt, sie setzte den Fuß vor, trat auf, trat ins Leere, fand Halt. In zwei, spätestens drei Minuten würde sie das Zimmer des zuständigen Genossen gefunden haben, würde sie wissen, wie er aussah, dessen Namen Strutzer erwähnte, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Josefa tauchte durch die erste Etage. Ein Mann verfolgte ihren Aufstieg mit gleichgültigem Blick. Josefa trug einen Rock und trat an die hintere Wand ihres Käfigs. »Und zieh um Gottes willen keine Jeans an, wenn du da hingehst«, hatte Luise gesagt. Luise kannte den zuständigen Genossen nicht. Er hatte vor einem Jahr den ehemaligen zuständigen Genossen, einen ungehobelten Mann aus dem Sächsischen in zu kurzen Hosen, abgelöst, und außer Rudi Goldammer und Siegfried Strutzer hatte ihn noch kein Mitarbeiter der Illustrierten Woche gesehen.
Wo hatte sie das gelesen: »Das Wichtigste ist, daß man als erster Angst hat, vor der Schlacht. Wenn sie Angst bekommen, dann hat man es längst hinter sich.« Aber warum sollte Josefa sich fürchten, und wovor? In einer halben Stunde würde sie im Paternoster wieder erdwärts gleiten, würde den Bau verlassen und sich in ausreichender Entfernung, so daß die Portalwache es nicht beobachten konnte, in den Frühlingswind legen, der heute aus Nordosten blies,
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