Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
Vom Netzwerk:
und würde in zahllosen Schleifen und Loopings den Alexanderplatz anfliegen, an dem das erdbebenfeste Verlagshaus stand. Eine elektrisch beleuchtete Drei schob sich in Josefas Augenhöhe. Josefa stellte sich dicht an den vorderen Rand der Kabine. Sie hob den rechten Fuß an, um ihn im richtigen Augenblick auf den sicheren Boden setzen zu können. Noch zwanzig Zentimeter, zehn Zentimeter, los – aussteigen war leichter.
    Von dem Foyer vor dem Paternoster führten drei Gänge in das Innere des Baus. Josefa war unsicher, welchen der drei Wege sie wählen sollte. Sie verglich die auf ihrem Schein angegebene Zimmernummer mit den Zahlen an den jeweils ersten Türen der drei Gänge, aber alle drei Zahlen lagen ähnlich weit entfernt von der, die sie finden mußte. Kein Mann war zu sehen und keine Frau, die sie nach dem Weg hätte fragen können. Durch eine Tür, deren oberes Drittel aus einer Glasscheibe bestand – mattiertes Glas wie das Fenster in der Anmeldung –, drang künstliches Licht. Josefa klopfte. Es blieb still. Sie klopfte noch einmal, leiser diesmal, weil das Geräusch, das sie beim ersten Versuch verursacht hatte, ihr noch unangemessen laut in den Ohren hallte. Sie drückte die Klinke herunter, vorsichtig, um niemanden zu erschrecken, falls sich doch jemand in dem Raum befände, auch weil sie das Gefühl hatte, etwas Unerlaubtes zu tun. Der Widerstand der Tür löste sich nicht, die Tür war verschlossen. Ohne nennbaren Grund schlug Josefa den mittleren Weg ein. Als sie einige Meter gelaufen war, hörte sie eilige Schritte aus einer anderen Richtung, die sich dem Foyer näherten. Josefa ging zurück, um den Verursacher der Schritte nach dem richtigen Weg zu fragen. Vor dem Paternoster stand ein Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug. Die Finger kräftig und schlank, der Mann trug sich sportlich, und Josefa hielt ihn für einen, der zu Hause einen Hometrainer und eine Höhensonne besaß und sie auch benutzte. Der Mann konnte fünfzig Jahre alt sein oder auch etwas jünger. Am linken Revers seines Anzuges trug er das ovale Abzeichen mit den verschlungenen Händen, für Josefa das Erkennungszeichen guter Menschen seit der Kindheit. Wenn sie sich verlaufen hatte oder wenn sie wissen wollte, wie spät es war, wartete sie auf einen, der dieses Abzeichen trug. Das waren ihre Freunde, hatte die Mutter ihr erklärt. Auch später, als Josefa längst andere kennengelernt hatte, die nicht ihre Freunde waren und auch das Abzeichen trugen, verspürte sie noch jahrelang, sobald ihr ein Genosse gegenüberstand, ein spontanes Aufwallen von Vertrauen, das sie schnell unterdrückte, weil es ihre Eindrücke behinderte und weil es sie immer wieder in eine kindlich-gläubige Position drängte, die weder ihrem Alter noch ihren tatsächlichen Ansichten entsprach.
    Der Mann, der vor dem Paternoster stand, kam Josefa einige Schritte entgegen. »Sind Sie die Genossin Nadler von der Illlustrierten Woche?« Der Mann stellte sich als der zuständige Genosse vor, sagte, es sei schwer für einen Besucher, sich in diesem monströsen, furchteinflößenden Haus zurechtzufinden. Darum würde er seine Besucher am Paternoster abholen, denn nur das Haus sei furchteinflößend, nicht seine Bewohner. Er lachte, Josefa lachte auch. Der Mann führte sie durch den verwinkelten Gang, und Josefa versuchte sich einzuprägen, wo sie links oder rechts abbogen.
    Der zuständige Genosse öffnete eine Tür und ließ Josefa vor sich in das Zimmer treten, in dem die Sekretärin saß, die von ihrer Schreibarbeit aufsah und Josefa freundlich begrüßte. Der zuständige Genosse bat seine Sekretärin, sie möge doch Kaffee aus der Kantine holen, zwei oder drei Tassen, ganz wie es ihr beliebe. Dann führte er Josefa durch eine Verbindungstür in einen zweiten Raum, bot ihr Platz an in der Sesselecke, ließ die Sonnenrollos so weit herunter, daß die Sonne nicht mehr blendete. Er litte in der letzten Zeit unter einer leichten Bindehautentzündung, sagte er, während er einen Aschbecher aus böhmischem Glas auf den Tisch stellte. Sonst liebe er es, wenn Licht auf die Menschen und die Dinge fiele, mit denen er zu tun hätte, sagte er und sah Josefa dabei vieldeutig an. Ob es Josefa störe, wenn er sie sieze, fragte er, ihm fiele es schwer, Menschen, die er nicht näher kenne, zu duzen. Insbesondere Frauen gegenüber hätte er dann das Gefühl unangemessener Vertraulichkeit, noch dazu, wenn es sich um so schöne Frauen handele. Er wurde ernst. »Und Sie machen

Weitere Kostenlose Bücher