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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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zu ungeduldig«, sagte der Genosse. »Vielleicht brauchen wir den gleichen Beitrag in einem Jahr dringend. Jetzt nicht. Denken Sie an Brecht, Galilei. Manchmal ist es klüger zu schweigen, wenn man noch viel zu sagen hat.«
    Sie schwiegen.
    »Genossin Nadler, warum habe ich Sie zu mir gebeten? Warum rede ich mir Blasen an den Mund, damit Sie unsere Entscheidung begreifen?« Bevor der Genosse zur Antwort überging, wartete er einen Augenblick. »Weil wir auf Genossen wie Sie nicht verzichten wollen und auch nicht verzichten können. Weil Sie uns auch weiterhin vertrauen sollen. Ich sage Ihnen jetzt etwas, das unter uns bleiben muß: Menschen wie euer Genosse Strutzer sind für einen reibungslosen Ablauf, gleichgültig, ob in einer Redaktion oder in einem Institut, notwendig. Aber allein mit solchen Menschen den Sozialismus aufbaun können wir nicht. Dazu brauchen wir phantasievolle, mutige, ja, auch unbequeme Menschen. Darum, Genossin Nadler, ringe ich, und jetzt muß ich doch du sagen, um dein Verständnis.«
    Von allen Worten, die der zuständige Genosse gesagt hatte, blieb in Josefa nur das Wort Verständnis haften, weitete sich aus. Verständnis sollte sie haben. Sie hatte den Anarchisten verstanden und Thal, vor allem aber Hodriwitzka hatte sie verstanden. Jetzt sollte sie den Genossen verstehen. Zu viel Verständnis ist schlecht. Ein Verständnis hebt das andere auf. So viel Verständnis konnte sie nicht ertragen.
    Hodriwitzka ist tot, sagte sie, er kann keinen Brief mehr schreiben. Einer muß es schreiben.
    Sie erzählte von dem Gespräch mit Hodriwitzka, das mußte der zuständige Genosse wissen, damit er verstand. Und sie erzählte, wie der Anarchist sie beschimpft hatte, und daß sie gewünscht hatte, Strutzer würde sich ein Bein brechen. Und wie Luise über Strutzer dachte und warum Rudi Goldammer krank war und eines Tages sterben würde an Strutzer.
    Josefa spürte, wie der Raum sich füllte mit ihren Sätzen und mit ihrer Stimme, und sie dachte, daß sie aufhören müßte zu reden, und sprach weiter. Der Mann schien zu verstehen, nickte ihr ermutigend zu. Strutzer ist eine fette Qualle, sagte sie, und er, der zuständige Genosse, würde ihn unterstützen. Angst hätte sie vor Strutzer, Angst, die in den Ohren rauscht und Wut wird. Und sie wolle nichts verstehen von Strutzer. Sie hätte genug verstanden, sogar Mitleid hätte sie gehabt, weil er seine eigene Pisse hatte trinken müssen. Aber jetzt, da Hodriwitzka tot sei, hätte sie endgültig genug, und sie lehne es ab, diesen taktischen Schwachsinn zu verstehen.
    Der zuständige Genosse war betrübt. »Sie verstehen nicht nur den Genossen Strutzer nicht«, sagte er, »Sie verstehen auch mich nicht. Finden Sie es nicht ungerecht, daß Sie zwar niemanden verstehen, während ich Sie verstehen muß und den Genossen Strutzer und den Genossen Goldammer und den für mich zuständigen Genossen? Ich verstehe Sie, Genossin Nadler, ich verstehe Sie sogar sehr gut, Ihre revolutionäre Ungeduld, Ihren Wunsch, es besser zu machen, als es ist. Ich habe eine Tochter, einige Jahre jünger als Sie, ein hübsches Mädchen, intelligent, Sie erinnern mich an sie. Wie oft rede ich mit ihr, Mädchen, sage ich, wenn du die Geduld verlierst, wer soll sie dann behalten. Sie müssen lernen, Niederlagen zu ertragen.«
    Der Genosse goß Josefas Glas zum zweiten Mal voll Kognak. Sein eigenes Glas war noch halbvoll. »Halten Sie aus, Mädchen, und halten Sie maß. Schießen Sie nicht mit Kanonen auf Spatzen.«
    »Strutzer ist ein besonderer Spatz«, sagte Josefa, »ein unsterblicher Spatz. Außer Kanonendonner vergrault den nichts.«
    »Geht es Ihnen um das Kraftwerk oder geht es Ihnen um Strutzer?« fragte der zuständige Genosse.
    »Um das Kraftwerk«, sagte Josefa, »und um Strutzer.« Sie war müde, von einer Minute zur anderen war sie sterbensmüde. Die Proben mit Christian, die Angst, ehe sie den Bau betreten hatte, und noch, als sie die richtige Tür suchte, der Kognak, die Stimme mit dem rollenden R. Josefa hielt das bauchige Glas, schaukelte die braune Flüssigkeit, die da dunkler war, wo ihre Finger das Glas umschlossen hielten. Starrte in den wässrigen Spiegel, in dem zwei Finger schwammen. Ein buntes kleines Flaschenteufelchen tauchte die andere Figur unter das Wasser und setzte sich auf ihren Rücken. Das Flaschenteufelchen schwang eine unsichtbare Peitsche. Die andere Figur, einem Fisch ähnlich, aus dessen Seiten Arme statt der Flossen wuchsen, versuchte, indem es

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