Flugasche
Beförderungswege verlorengegangen oder in der Poststelle des Höchsten Rats versehentlich unter das Altpapier geraten. Diese Hoffnung veranlaßte sie, keinem Menschen von dem Brief zu erzählen. Sie hatte ihn geschrieben noch unter dem Eindruck eines Erlebnisses, in das sie während der abendlichen Heimfahrt geraten war. Sie hatte die Redaktion eine Stunde früher als üblich verlassen, um in der Wohnungsverwaltung einen neuen Badeofen zu bestellen. Während sie die Treppe der Untergrundbahn langsam im Strom der Büroheimkehrer emporstieg, bemerkte sie noch nichts. Als außergewöhnlich fiel ihr nur die Menschenmenge an der Straßenbahnhaltestelle auf, die größer war als an anderen Tagen und die darauf schließen ließ, daß eine oder mehrere Bahnen ausgefallen waren. Josefa hatte nur drei Stationen zu fahren oder zwanzig Minuten zu laufen, und da die Zeit nicht drängte, das Wetter auch leidlich mild war, beschloß sie zu laufen. Nachdem sie sich durch die störrisch wartende Menge geschoben hatte und auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo mehr Geschäfte die Eintönigkeit des Weges unterbrachen, fünfzig oder hundert Meter gelaufen war, bemerkte Josefa das Eigenartige in der Luft. Zunächst glaubte sie, es sei das Licht. Ein scharfes Zwielicht spaltete die Straßen und Gegenstände in zwei Schichten, die um einige Millimeter verschoben aufeinander lagen. Josefa schloß die Augen, und das Seltsame verschwand nicht, es war hörbar, obwohl Josefa Art und Charakter des Geräusches nicht ausmachen konnte. Ein stilles Rauschen flirrte in der Luft, das Rauschen von Blättern oder Flügeln. Josefa blickte durch die kahlen Äste der Baumkronen und konnte nichts finden, was das Rauschen verursachen konnte. Ein schwarzer Vogel saß auf einem Ast, öffnete den gelben Schnabel, als wollte er singen, schlug mit den Flügeln, als wollte er fliegen, und fiel lautlos auf die Erde. Die Luft geriet in Bewegung, und als Josefa sich umwandte, sah sie die schwarze Limousine, die, umgeben von einem Schwarm uniformierter Männer auf Krafträdern, in gleichmäßiger Geschwindigkeit über die Fahrbahn schwebte. Den Lärm der Motoren schluckte die Stille, nur ein gedämpftes Zischen drang an Josefas Ohren, und die Wellen der verdrängten Luft schlugen ihr ins Gesicht. Die Limousine verschwand in der nächsten Krümmung der Straße. Ein schriller Pfiff zerriß die Luft wie Papier. Zwei Polizisten sprangen aus der Deckung der Häuserwände auf die Fahrbahnen und hoben ihre mit weißen Überziehern markierten Arme.
Aus allen Nebenstraßen schoß der gestaute Verkehr mit lautem Getöse in die Hauptstraße, floß stockend und drängend wie dickes Blut in die toten Adern, durchzuckte sie hektisch, allmählich ruhiger und rhythmisch, und der Lärm zog über die Dächer. Die Stille war es, dachte Josefa, die Totenstille. Sie schoben die Stille vor sich her; wohin sie auch kamen, die Stille war vor ihnen da. Sie müssen taub sein davon, dachte Josefa. Sie werden nichts wissen über B., sie können es gar nicht wissen. Sie verschob die Beschaffung des Badeofens auf einen anderen Tag und fuhr nach Hause, um den Brief zu schreiben. Darin teilte sie mit, daß sie, Journalistin, dreißig Jahre alt, die Regierung von Zuständen unterrichten müsse, von denen sie vermutlich keine Kenntnis habe, und daß der Heizer Hodriwitzka aus B., der diesen Brief schon vor Wochen habe schreiben wollen, von einem Bus überfahren worden sei, als er links abbiegen wollte, ohne abzuwinken. Da zuständige Genossen eine öffentliche Behandlung des Themas in der Presse nicht zuließen, sähe sie sich genötigt, die Regierung auf diesem Wege über Versäumnisse beim Aufbau des Sozialismus zu unterrichten. Es folgte eine genaue und knappe Schilderung der Vorgänge um das Kraftwerk in B. Josefa suchte ein sauberes Kuvert mit geraden Ecken, beschriftete es, nachdem sie die vollständige Adresse im Telefonbuch gefunden hatte, kaufte am Kiosk Briefmarken und steckte den Brief in den gelben Kasten. Am anderen Morgen versuchte sie, den Mann, der die Briefkästen der Gegend leerte, abzufangen, um den Brief zurückzunehmen. Aber sie kam zu spät, und ihr blieb nur die Hoffnung auf die Unzuverlässigkeit der Post oder der Behörde, die sich nicht erfüllen sollte.
Zum ersten Mal, seit sie die Antwort erwartete auf ihren Brief, fühlte Josefa sich ohne Angst, ungläubig noch, hin und wieder still auf das innere Hämmern und auf die Krämpfe wartend, die allein dem Gedanken an
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