Flugrausch
unterhielten. Ab und zu legte er sich eine Hand hinters Ohr und fragte: »Wie bitte?« In den ersten Jahren der Haftstrafe seiner Tochter hatte er sich geweigert, sie zu besuchen, doch er war im Laufe der Zeit sanftmütiger geworden. Er schüttelte Challis die Hand und machte daraus eine gefühlsbetonte Geste, indem er Challis’ Finger eine Ewigkeit lang festhielt.
Die beiden liebten ihn, und sie liebten ihre Tochter, und sie waren schier zerfressen vor lauter Schuldgefühlen.
Dann kreischten Kinder und junge Frauen ihre Hallos. Die Insassinnen betraten den Raum.
In Challis’ Augen schien seine Frau seit Karfreitag dahinzusiechen. Sie hatte die Körpergröße und die groben Knochen ihrer Eltern, aber in der Zwischenzeit waren die Knochen krumm und fleischlos geworden, und sie wirkte kleiner, leerer, trauriger. Sie stand stumm da, als einer nach dem anderen sie küsste, doch als Challis sich von ihr lösen wollte, klammerte sie sich fest an ihn.
»Na komm, Angela«, sagte er sanft, »setzen wir uns.«
Manchmal gab es Gewaltausbrüche, deshalb waren Tische und Stühle aus Plastik. Challis hörte die Stühle unter dem Gewicht seiner Schwiegereltern ächzen. Das Erste, was seiner Frau über die Lippen kam, war: »Ich wollte nur Hal«, und ihre Unterlippe kräuselte sich schmollend.
Marg und Bob zuckten angesichts dieses Satzes sichtlich zusammen. »Aber, meine Liebe …«, stammelten sie.
Angela verschränkte die Arme. »Na gut, dann sag ich eben nichts mehr.«
Sie war so bockig wie ein Kind, und vielleicht fühlten sich ihre Eltern an das Kind von früher erinnert, denn sie seufzten gemeinsam und verließen nach einigem Räuspern und Hüsteln den Raum.
»Was möchtest du, Angela?«
»Sei doch nicht so, so kalt.«
»Hör mal, ich habe einen weiten Weg hinter mir.«
In einem jämmerlichen Schauspiel aus Schüchternheit und Koketterie rutschte seine Frau auf dem Stuhl nach vorn, streckte die Hände unter dem Tisch aus und legte sie auf seinen Oberschenkel.
»Hal, du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich hier drin vermisse. Wenn ich dich nur berühre, werd ich schon ganz feucht.«
»Hör auf damit«, sagte Challis.
Sie legte den Kopf zur Seite, grinste und verengte die Augen zu Schlitzen, um ihn eingehend zu betrachten, und er sah, wie nah sie dem Wahnsinn war.
Ein zweites Mal sagte er: »Hör auf damit«, und diesmal lag das Verbot deutlich in Stimme und Gesicht, ein eisiger Wind von einem Hochplateau, das wirkte wie eine Ohrfeige.
Angela sank in sich zusammen, legte die Hände vors Gesicht und fing an zu flennen. Challis schaute ihr eine Weile dabei zu. Die Angst, dass er vielleicht mit dafür verantwortlich war, dass sie sich hier befand, lag wie ein Stein in seiner Brust, und solange er sich nicht davon lösen konnte, würde er weiter der verständige Mann sein, der ihr zuhörte, damit sie sich selbst half und ihre Strafe absitzen konnte. Aber er liebte sie nicht und wollte sie auch nicht zurück, und es war durchaus möglich, dass sie sich hier drin das Leben nahm. Das wollte er nicht, aber wenn es dazu kam, würde er dann Schuldgefühle bekommen, oder würde er erleichtert sein?
Wieder draußen, fühlte er sich angespannt und nervös, und die lange Heimfahrt war da kein Gegenmittel. So fuhr er stattdessen in die Stadt in ein Parkhochhaus in der Flinders Lane, von wo es nur ein kurzes Stück zu Fuß war bis zum oberen Ende der Collins Street.
Timepiece war ein vor Glas und Messing glitzerndes Ladenlokal zwischen einem Buchladen und einer Boutique. Der Boden unter Challis’ Füßen vibrierte von einer vorbeifahrenden Straßenbahn, er schob die schwere Tür auf, trat ein, und im selben Augenblick schlug eine Standuhr vier. Rings um ihn tickten, schwirrten und flüsterten Uhren.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Ein Mann mit ausgemergeltem Gesicht schaute mürrisch, wie Challis zu ihm kam und in der Innentasche nach seinem CIB-Ausweis griff. »Detective Inspector Challis. Sind Sie Mr. Jelbart?«
»Bin ich.«
»Sie erinnern sich bestimmt daran, dass einer meiner Detectives, DC Sutton, bei Ihnen angerufen hat, um …«
»Ich erinnere mich. Wie ich schon sagte, ich brauche etwas mehr als nur jemandes Wort am Telefon.«
»Nun haben Sie ja meinen Ausweis gesehen«, sagte Challis verärgert.
Schnüffel. »Das ist nun nicht ganz dasselbe wie ein Durchsuchungsbefehl.«
»Verzeihen Sie, Sir, aber es geht hier um Mord. Ich interessiere mich nicht für irgendwelche anderen Unterlagen oder Aktivitäten
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