Flußfahrt
Das Mädchen schrie, sprang herum und griff nach hinten. Ein Gegenstand traf die Spitze des Zeltes. Ich dachte, er gehöre zu meinen Gedanken, weil das Atelier kein Traum war. Ich streckte die Hand aus.
Der Stoff des Zeltes vibrierte schwirrend wie ein Segel. Irgend etwas schien sich in die Spitze des Zeltes gekrallt zu haben. Die Plane zitterte unter dem heftigen Griff. Aus dem Innern meines Herzens kam mir beklemmend zum Bewußtsein, wo ich mich in Wirklichkeit befand. Ich griff nach dem kühlen Schaft der Taschenlampe zwischen den Luftmatratzen, schaltete sie an und richtete den schwachen Lichtstrahl erst auf den Zelteingang, dann nach oben. Ich sah nur die schmale, graugrüne Zeltnaht, bis ich die Stelle über meinem Kopf erreichte: der Stoff war durchlöchert, und durch das Loch griff jetzt eine deformierte Faust, eine Reihe von scharfen, gebogenen Krallen.
»Raubvogelkrallen«, sagte ich laut.
Ich lag da, kurz vor einem Schweißausbruch, und sah unter meinen fast geschlossenen Lidern hoch, und in meine Furcht mischte sich Selbstironie. Denn schließlich war eine Eule nichts so überaus Gefährliches. Jetzt durchbohrte auch ihre andere Klaue das Zelt, langsam und bestimmt, und sie verlagerte ihr Gewicht, bis ich fühlte, daß sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte. Die Krallen lockerte sie nicht, aber das Zelt bebte jetzt weniger. Dennoch hatte man das Gefühl, gleich davongetragen zu werden. Ich döste kurz ein und versuchte mir vorzustellen, wie das Zelt von außen aussehen mochte, mit dem großen Nachtvogel – nach der Form von Krallen und Klaue mußte er groß sein –, der oben in seinem eigenen Schweigen und Gleichgewicht saß und uns wie eine Beute in unserem Schlaf festhielt. Die Krallen griffen etwas fester zu, der Stoff des Zeltes riß, und dann schlug ein schwerer Gegenstand darauf; mir schien es seltsam, daß wir uns immer noch auf dem Boden befanden.
Ich sank zurück und begriff, daß ich den ersten Schlag der Eulenflügel gehört hatte, kraftvoll und fast ohne Geräusch, den Schlag, mit dem sie sich in die Luft aufschwang. Ein wenig später hörte ich aus der Tiefe meines Schlafes das Rauschen der Bäume. Und dann wurde das Zelt geschüttelt – die Eule hatte wieder ihren Platz eingenommen. Ich wußte es, bevor ich die Taschenlampe anknipste, die ich immer noch in der Hand hielt und die jetzt so warm war wie mein Körper. Ich sah die Klaue mit den Krallen, die wieder eindrangen. Ich zog meine andere Hand aus dem Schlafsack und sah sie durch das dünne Licht zaghaft nach oben wandern, bis ein Finger den kalten, reptilartigen Nagel der einen Kralle berührte.
Ich wußte nicht, ob die Eule meinen Griff fühlte; ich dachte, sie würde vielleicht davonfliegen, aber sie tat es nicht. Statt dessen verlagerte sie wieder ihr Gewicht, und die Krallen der Klaue, die ich berührte, lockerten sich eine Sekunde lang. Ich legte meinen Zeigefinger zwischen Kralle und Zelt, halb um den rissigen Hornhautballen. Der Griff wurde fester, stark, nervös, zögernd, schmerzte jedoch nicht. Ich zog so lange, bis mein Finger wieder frei war, und jetzt flog die Eule auf. Die ganze Nacht lang kam sie immer wieder und begab sich von der Spitze des Zeltes aus auf Jagd. Wenn sie zu uns kam, sah ich nicht nur die Klaue; ich konnte mir vorstellen, was die Eule tat, wenn sie weggeflogen war, wenn sie durch die Bäume flatterte und alles sah. In meinem schwerelosen Zustand jagte ich mit ihr, so gut ich konnte. In meinem Kopf stand der Wald in Flammen. Bei Morgengrauen konnte ich mit der Hand nach oben langen und die Krallen berühren, ohne vorher Licht angemacht zu haben.
15. September
Ich wachte immer wieder auf, und als ich endlich richtig wach war, hing das Moskitonetz still und grau vom Zelteingang herunter. Drew steckte tief in seinem Schlafsack und hatte den Kopf auf die mir abgewandte Seite gedreht. Ich hielt die Taschenlampe noch in der Hand und versuchte, mir den kommenden Tag vorzustellen. Er war vom Fluß beherrscht, aber bevor wir uns wieder der Strömung anvertrauten, konnten wir noch andere Dinge tun. Ich dachte daran, daß wir an einem Ort waren, wo keine – oder fast keine – von meinen täglichen Pflichten irgendeinen Sinn hatte. Es gab keinen gewohnten Handgriff, auf den ich mich jetzt verlassen konnte. War das Freiheit? Ich fand keine Antwort. Ich zog den Reißverschluß auf und rollte mich mit angehaltenem Atem aus dem Schlafsack. Die eigene Wärme wich langsam aus meinem Körper, als ich mich
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