Flut: Roman (German Edition)
beruhigt« – Benedikt griff nach der Speisekarte –, »werde ich den beiden den Verlust auf Heller und Pfennig ersetzen. Das Bargeld, die Flugkarten, die Koffer samt Inhalt und die ausgefallenen Urlaubsfreuden. Ich habe ihre Adresse. Wenn alles vorbei ist, schicke ich ihnen einen Scheck – plus Zweihundert-Prozent-Bonus.«
»Du musst ja ziemlich vermögend sein«, sagte Rachel, eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen.
»Ich besitze keinen roten Heller«, antwortete Benedikt.
»Und woher willst du dann das Geld nehmen?«
Benedikt hob die Schultern. »Keine Ahnung«, gestand er. »Ich schätze, ich werde es stehlen.«
Gegen ihren Willen musste Rachel lachen. Sie sah ihm noch eine Weile mit unverhohlener Schadenfreude zu, wie er vollkommen hilflos die Speisekarte studierte, dann nahm sie ihm das in Plastik eingeschweißte Blatt aus der Hand, winkte den Kellner herbei und bestellte zwei Portionen Rühreier mit Schinken, indem sie mit dem Zeigefinger darauf tippte, und zwei Kaffee.
»Du hast mich belogen«, sagte Benedikt stirnrunzelnd. »Du sprichst doch mehr als fünf Wörter Italienisch.«
»Keineswegs«, antwortete Rachel. »Ich habe mich durch die Speisekarte getippt, bis ich etwas halbwegs Genießbares gefunden habe. Seither bestelle ich jedes Mal dasselbe, wenn ich mit diesem Zug fahre.«
»Tust du das oft?«
Rachel schwieg einen Moment. »Was tun wir hier?«, fragte sie dann. »Treiben wir Konversation oder versuchst du mich auszuhorchen?«
Benedikt sah einen Moment aus dem Fenster, ehe er antwortete, und als er es tat, sah er nicht sie an, sondern ihr geisterhaftes Konterfei in der Fensterscheibe. »Was soll ich noch tun, damit du mir traust?«
»Vielleicht endlich aufhören, Fragen zu stellen«, sagte Rachel.
»Es wäre einfach nur leichter, wenn ich wüsste, wohin wir fahren«, antwortete Benedikt. Es klang nicht wirklich verletzt, aber ein wenig verärgert. »Deine Vorsicht ist in Ordnung. Aber es wäre leichter, wenn ich unser endgültiges Ziel kennen würde. Vielleicht weiß ich ja einen schnelleren Weg dorthin. Ich bin wirklich gut in solchen Dingen.«
»Es gibt keinen schnelleren Weg«, sagte Rachel. Das Thema war damit für sie erledigt, aber für Benedikt offenbar nicht. Er löste seinen Blick von dem Geisterbild auf der Scheibe und dem tobenden Unwetter dahinter, sah ihr direkt ins Gesicht und setzte zu einer Art von Antwort an. Aber dann brach er plötzlich ab und sah konzentriert an ihr vorbei. Sie war nicht ganz sicher, ob der Ausdruck auf seinem Gesicht Schrecken war. Nicht ganz, aber doch beinahe.
Rachel wollte sich herumdrehen, aber Benedikt legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm und schüttelte ganz leicht den Kopf.
»Nicht«, flüsterte er.
Wie war das? Die sicherste Methode, jemanden in Panik zu versetzen, bestand darin, ihm zu versichern, dass kein Grund zur Panik bestand?
»Was ist los?« Immerhin brachte sie es fertig, leise zu reden und sich tatsächlich nicht herumzudrehen.
Benedikt ließ beunruhigend viele Sekunden verstreichen, ehe er antwortete. »Nichts«, sagte er. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, aber ich muss mich wohl getäuscht haben.« Er zwang sich zu einem nervösen Lächeln. »Anscheinend werde ich allmählich paranoid.«
Rachel zog ihre Hand unter seinen Fingern hervor und drehte sich halb im Stuhl herum. Der Speisewagen war so voll wie bisher. Sämtliche Tische waren besetzt und etliche Fahrgäste standen noch da und warteten darauf, dass ein Platz frei wurde; die meisten waren schon hier gewesen, als sie kamen.
»Ich sehe nichts Auffälliges.«
»Ich auch nicht«, behauptete Benedikt. »Ich sagte doch, ich habe mich geirrt.«
Rachel sah ihn durchdringend an. »Du hast immer noch Angst, dass sie uns finden.«
»Nein«, antwortete Benedikt. »Das ist völlig unmöglich. Jedenfalls nicht so schnell.« Er klang nicht überzeugt.
Der Kellner kam und brachte das bestellte Essen. Benedikt bezahlte sofort und er ließ sich übermäßig viel Zeit damit, was seine Antwort noch einmal zusätzlich relativierte. Aber es machte Rachel auch klar, dass er nicht weiter über dieses Thema reden würde. Und vielleicht hatte er ja sogar Recht. Sie hatten ihre Spuren verwischt, so gut es ging. Ganz bestimmt alles andere als perfekt, aber ganz bestimmt auch gut genug, um ihnen ein paar Stunden Vorsprung zu verschaffen. Mehr brauchten sie nicht. Selbst unter ungünstigen Umständen waren sie in längstens einer Stunde in Norcia und zwei Stunden
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