Flut: Roman (German Edition)
später bei Uschi. Nein, er hatte völlig Recht. Vielleicht war er ja nicht der Einzige hier, der allmählich paranoid wurde.
Sie begann lustlos in ihrem Essen herumzustochern, aber schon nach den ersten Bissen merkte sie, wie hungrig sie war. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal vernünftig gegessen hatte? Annähernd vierundzwanzig Stunden? Im Moment jedenfalls fühlte sie sich, als wären es vierundzwanzig Tage gewesen.
Sie musste sich beherrschen, um einigermaßen gesittet zu essen und nicht zu schlingen. Benedikt sah ihr mit einem Ausdruck leiser Missbilligung dabei zu, enthielt sich aber jeden Kommentars und begann schließlich ebenfalls zu essen.
Rachel hatte nicht das Gefühl, wirklich gesättigt zu sein, als sie fertig war. Benedikt hatte seine Portion kaum zur Hälfte vertilgt, legte aber das Besteck aus der Hand. Rachel musterte seinen Teller mit verstohlener Gier und Benedikt deutete ein Kopfschütteln an und schob ihr den Teller zu. Sie nahm das Angebot ohne zu zögern an und verputzte auch die zweite Portion in Rekordzeit.
»Dein Appetit hat jedenfalls nicht gelitten«, sagte er, als sie fertig war und mit einem gewaltigen Schluck Kaffee nachspülte.
»Warum auch? So wie es aussieht, brauche ich mir um meine Figur wohl kaum noch Sorgen zu machen.«
»Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge –«
»– würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen«, führte Rachel den Satz zu Ende. »Ich kenne das Zitat. Fromme Sprüche helfen uns im Moment leider nicht weiter, weißt du?«
»Nein«, antwortete Benedikt. »Das weiß ich nicht. Vielleicht sind fromme Sprüche im Moment das Einzige, was uns noch hilft. Da, wo ich aufgewachsen bin, ist man der Meinung, dass an den meisten dieser frommen Sprüche was dran ist.«
»Warum erzählst du mir nichts davon?«
»Von frommen Sprüchen?«
»Von deinem Vater.« Sie war nicht sicher, dass dies die richtige Bezeichnung war, und fügte hinzu: »Darkov.«
Sie rechnete nicht wirklich damit, eine Antwort zu bekommen, aber Benedikt hob nur die Schultern und begann in seinem Kaffee zu rühren. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Ich meine: Wenn du jetzt erwartest, dass ich dir eine rühmliche Geschichte von einem tyrannischen Vater und einem Jungen erzähle, der um seine Jugend betrogen worden ist, dann muss ich dich enttäuschen. Darkov ist ein harter Mann. Ein sehr harter Mann sogar. Aber er war trotzdem ein guter Vater. Ich hatte eine Jugend, um die mich die allermeisten Jungen beneidet hätten – jedenfalls kam es mir damals so vor.«
Rachel sah ihn fragend an.
»Ich bin unter Soldaten aufgewachsen«, sagte Benedikt. Er begann mit seiner Tasse zu spielen. »Es war eine reine Männerwelt, weißt du? Ich hatte keine Mutter, aber dafür zwei Dutzend Väter. Es war ein bisschen wie in einem Sommerlager der Pfadfinder, verstehst du? Nur dass es zwanzig Jahre gedauert hat.«
»Das klingt ja richtig wildromantisch«, sagte Rachel.
»Das war es«, antwortete Benedikt ernst. »Es war ein einziges großes Abenteuer.«
»Und es hat dir nichts ausgemacht? Immerhin hat er deine Eltern getötet.«
»Wer sagt, dass er es getan hat?« Benedikt trank einen Schluck, vermutlich um Zeit zu gewinnen. »Nein, es hat mir nichts ausgemacht«, sagte er dann. »Außerdem bin ich ganz und gar nicht sicher, dass es Darkov war.«
»Ich nehme an, er hat dir erzählt, De Ville habe deine Eltern getötet.«
»Du hast De Ville kennen gelernt«, erwiderte Benedikt, womit er einer direkten Antwort auswich. »Besser als ich. Traust du ihm einen Mord zu?«
»Nein«, antwortete Rachel nach kurzem Überlegen.
»Siehst du«, sagte Benedikt, »so geht es mir mit Darkov. Ich weiß, es klingt absurd. Pjotr Darkov ist ein Söldnergeneral. Kämpfen und Töten ist sein Geschäft. Aber er ist trotzdem kein Mörder.«
»Das ist doch absurd.«
»Und selbst wenn es so wäre«, fuhr Benedikt unbeeindruckt fort. »Was ist mit deinen Eltern? Deinen leiblichen Eltern, meine ich.«
»Was soll damit sein?« Plötzlich verstand sie, worauf er hinauswollte. »He, es ist noch gar nicht gesagt, dass ich dieses zweite Kind bin, das damals geboren wurde. Du hast es selbst gesagt: Es gibt eine Chance von eins zu fünf.«
»Das meine ich nicht. Sie haben dir nie verschwiegen, dass sie nicht deine wirklichen Eltern sind, nicht wahr? Du wusstest von Anfang an, dass du ein Adoptivkind bist.«
»Seit ich acht Jahre alt war«, sagte Rachel. »Sie wollten es mir vorher nicht
Weitere Kostenlose Bücher