Flut: Roman (German Edition)
herrschte ein heilloses Gedränge und auf dem Weg dorthin musste sie über etliche gestürzte Fahrgäste hinwegsteigen, die nicht gerade begeistert darauf reagierten, ihren Fuß in den Magen oder ins Gesicht zu bekommen. Ohne Benedikts Hilfe wäre es ihr vermutlich nicht einmal gelungen, die Tür zu erreichen, geschweige denn in den Vorraum zu gelangen.
Benedikt bahnte ihnen rücksichtslos einen Weg. Er stieß zwei oder drei Männer einfach zu Boden und benutzte dann seine Schultern, um den Rest des Weges frei zu rammen.
Draußen herrschte ein fast noch größeres Chaos, aber die Menschenmenge floss fast ebenso schnell ab, wie sie aus dem vorderen Teil des Zuges nachströmte. Beide Türen standen offen und Benedikt musste jetzt keine Gewalt mehr anwenden: Sie wurden von der Menschenmenge einfach mitgerissen und stolperten aus dem Zug, ob sie wollten oder nicht. Rachel taumelte ein paar Schritte weit vom Zug weg, verlor irgendwie Benedikts Hand und drehte sich hastig herum, um nach ihm zu suchen.
Nahezu sämtliche Türen des Zuges waren aufgegangen und Dutzende, wenn nicht Hunderte von Fahrgästen strömten ins Freie. Sie konnte Benedikt im ersten Moment nicht sehen, obwohl sie seine Hand noch vor einem Augenblick auf der Haut gefühlt hatte, aber das war nicht weiter erstaunlich. Die Menschenmenge, in der sie sich befand, war noch nicht wirklich in Panik, aber auch nicht mehr besonders weit davon entfernt, und für einen Moment drohte die hysterische Stimmung auch auf sie überzugreifen.
Dann war Benedikt plötzlich wieder neben ihr, genauso schnell und scheinbar aus dem Nichts auftauchend, wie er gerade darin verschwunden war. Er sah nervös aus. Das Flackern war noch immer in seinem Blick, jetzt aber zusammen mit einem deutlichen Ausdruck von Sorge, der auch nicht unbedingt zu Rachels Beruhigung beitrug.
»Wo warst du?«, fragte sie.
»Weiter vorne. Etwas überprüfen.« Er machte eine entsprechende Kopfbewegung und griff gleichzeitig wieder nach ihrem Arm, wenn auch diesmal nicht annähernd so grob wie gerade. »Komm.«
Rachel wusste, wie sinnlos jeder Widerstand war, wenn sich Benedikt in dieser Stimmung befand, und im Grunde war sie sogar froh, aus der Nähe des Zuges und der immer noch anwachsenden Menschenmenge zu entkommen. Die Stimmung näher kommender Panik nahm zu. Sie hatte das Gefühl, sich inmitten eines Pulverfasses zu befinden, in dessen unmittelbarer Nähe jemand mit ausführlichen Schweißarbeiten begonnen hatte.
»Was ist denn nur passiert?«, fragte sie, bekam aber auch jetzt keine Antwort. Benedikt konnte auch gar nicht antworten, denn er war voll und ganz damit beschäftigt, sie mit einer Hand hinter sich herzuziehen, während er mit der anderen einen Weg für sie beide durch die Menge bahnte, wobei er seine enormen Körperkräfte ebenso rücksichtslos einsetzte wie gerade, als sie sich durch den Speisewagen gekämpft hatten. Rachel hatte Mühe, überhaupt mit ihm Schritt zu halten, während sie über die Schienen und die vielleicht fünf Meter hohe, aber steil ansteigende Böschung daneben stolperten.
Ihr Rand war von Büschen und einer Anzahl kleiner, in fast regelmäßigem Abstand wachsender Krüppelkiefern gesäumt, die ihrem Namen alle Ehre machten, und nur ein paar Meilen dahinter erhob sich die grünbraun marmorierte Wand eines Waldes.
Unter normalen Umständen hätten sie nur wenige Augenblicke gebraucht, um die Böschung zu überwinden, selbst ohne zu rennen. Jetzt stürzte sie auf dem schmierseifenglatten Gemisch aus Gras und Morast allein drei Mal, bevor sie die Hälfte der Böschung überwunden hatte, und die andere Hälfte legte sie auf beiden Knien und einer Hand zurück; an der anderen hielt Benedikt sie weiter gepackt und zerrte sie einfach hinter sich her. Er ließ erst los, als sie oben auf der Böschung und hinter der Deckung eines üppig wachsenden Busches war.
»Verdammt noch mal, bist du verrückt?« Rachel riss ihre Hand zurück, obwohl er ihren Arm längst losgelassen hatte, und massierte ihr schmerzendes Gelenk. »Was soll das?«
Benedikt deutete mit derselben Hand, mit der er sie gerade hinter sich hergezerrt hatte, die Böschung hinab und ein Stück nach links. Rachels Blick folgte seiner Geste.
Aus ihrem Zorn wurde ein jähes Gefühl von Schwerelosigkeit, das sich von ihrem Magen ausgehend fast explosionsartig in ihrem Körper ausbreitete, als befänden sich alle ihre inneren Organe plötzlich auf einem Sturz ins Nirgendwo.
Die Geleise führten in einem
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