Flut: Roman (German Edition)
sich fragte, warum er überhaupt geklopft hatte, ihm aber trotzdem ohne zu zögern folgte und sich neugierig umsah.
Der Raum war ungleich größer, glich aber dennoch dem Zimmer, in dem sie die letzte halbe Stunde verbracht hatte: Auch er hatte keine Fenster und war zweckmäßig, aber sehr einfach eingerichtet. Das beherrschende Möbelstück war ein großer Konferenztisch aus schmucklosem Kiefernholz mit verchromten Beinen, und statt des kleinen Fernsehers gab es eine gut fünf Meter messende Videowand, die die gesamte gegenüberliegende Front des Zimmers einnahm, aber damit hörte der Unterschied im Grunde auch schon auf. Es hätte ebenso gut der Speisesaal einer Jugendherberge sein können – oder eines Gefängnisses.
Sie wurden erwartet. Uschi und Frank – beide wie sie selbst mit frisch gewaschenem Haar und in neuen, trockenen Kleidern – saßen am anderen Ende des großen Tisches. Uschi sprang bei ihrem Eintreten halb auf und ließ sich dann wieder zurücksinken, während sie nicht ganz sicher war, ob Frank sie überhaupt bemerkt hatte. Er stierte mit leerem Blick vor sich hin und sein Gesicht war noch weit schlimmer angeschwollen als vorhin schon. Und so gern Rachel auch schlecht über ihn dachte – sie begann sich Sorgen um ihn zu machen. Frank war ein ziemlicher Dummkopf und manchmal ein fürchterlicher Trottel, aber er war nicht stumpfsinnig. Wenn er in derart dumpfes Brüten versunken war, konnte das nur bedeuten, dass Benedikt ihn wirklich schwer verletzt – oder dass er eine wirklich schlechte Nachricht bekommen hatte. Erschrocken fragte sie sich, ob das irgendetwas mit dem eigentlichen Grund seines Hierseins zu tun hatte. Mit Tanja.
Sie verscheuchte den Gedanken, aber nicht obwohl, sondern gerade weil er ihr solche Angst machte, und setzte ihre kurze Musterung des Zimmers fort. Außer Uschi, Frank und ihr hielten sich noch zwei Männer mittleren Alters und in dunklen Straßenanzügen hier drinnen auf, die ihr neugierig und auf eine seltsame Art erwartungsvoll entgegenblickten, obwohl sie ganz sicher war, sie noch nie zuvor im Leben gesehen zu haben, und obwohl sie sie nur aus den Augenwinkeln sah, registrierte sie auch die beiden schwer bewaffneten Posten, die rechts und links der Tür an der Wand standen.
»Also?«, wandte sie sich an De Ville. » Wer will mich sprechen?«
Statt ihr zu antworten, machte De Ville eine kaum sichtbare Handbewegung in Richtung eines der beiden Männer, der daraufhin in die Jackentasche griff und ein kaum zigarettenschachtelgroßes Handy hervorholte. Er klappte es auf und sprach einige wenige Worte in das Mikrofon und De Ville deutete mit einer einladenden Geste auf den freien Stuhl neben Uschi.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er. »Es dauert nur noch einen Moment.«
Rachel war viel zu müde und verstört, um zu antworten oder zu protestieren, und gehorchte wortlos. Sie umkreiste den Tisch und ließ sich auf einen der einfachen Plastikstühle sinken. Er war so unbequem, wie er aussah, aber so erschöpft und ausgelaugt, wie sie war, wäre sie sich vermutlich im Moment auch auf dem bequemsten Stuhl der Welt vorgekommen wie die Prinzessin auf der Erbse.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, nachdem sie Platz genommen hatte.
»Mit mir schon«, sagte Uschi.
Sie verstand sofort, wie diese Worte gemeint waren, und unterzog Franks Gesicht einer neuerlichen und diesmal sehr viel aufmerksameren Musterung. Er sah wirklich nicht gut aus. So angeschwollen, wie sein Unterkiefer war, musste es ihm enorme Mühe bereiten zu sprechen, vielleicht sogar zu atmen, und sein rechtes Auge hatte kein Weiß mehr, sondern schien von Tausenden winziger roter geplatzter Äderchen durchzogen. Obwohl er augenscheinlich genau wie Uschi und sie gerade geduscht hatte, roch er nicht gut und jetzt, aus der Nähe, konnte sie auch sehen, dass er am ganzen Leib zitterte. Sie hätte es nie für möglich gehalten – noch vor drei Jahren hatte sie einmal zu Tanja gesagt, dass sie, sollte sie das Pech haben, ihren Mann versehentlich zu überfahren, allerhöchstens zurücksetzen würde, um ihn noch einmal zu überrollen und auch sicher zu sein, ihn erwischt zu haben –, aber er tat ihr nicht nur Leid, der Anblick machte sie auch wütend. Mit einer ärgerlichen Bewegung drehte sie sich zu De Ville herum, der neben der Tür stehen geblieben war, sie und Uschi aber aufmerksam musterte. »Der Mann braucht einen Arzt!«, sagte sie. »Sehen Sie das denn nicht?«
»Er ist bereits verständigt und
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