Flut: Roman (German Edition)
unterwegs«, sagte De Ville. »Keine Sorge. Ich bin kein Arzt, aber ich kenne mich ein wenig mit solchen Verletzungen aus. Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie es aussieht. Er wird es überstehen und keine bleibenden Schäden davontragen.«
Sollte sie das beruhigen? De Villes Worte machten sie eher noch wütender, aber bevor sie auffahren konnte, wurde die Tür geöffnet und zwei weitere Männer betraten den Raum. Einer von ihnen trug eine geradezu lächerliche Uniform – Pluderhose und -hemd in Rot und Weiß und einen grotesken Helm, als wäre er geradewegs aus der Dekoration einer Operette von Johann Strauß entsprungen, der andere war weniger auffällig gekleidet und um einiges älter, wenn auch sicher noch kein alter Mann. Er mochte etwa Ende fünfzig sein, war hoch gewachsen und schlank und sein Gesicht kam ihr vage bekannt vor, aber sie wusste ihn im ersten Moment nicht einzuordnen. Dann hörte sie, wie Uschi neben ihr scharf die Luft zwischen den Zähnen einsog und auf ihrem Stuhl zusammenzuckte, und auch die beiden Posten neben der Tür nahmen Haltung an. Selbst De Ville straffte sich, wenn er auch nicht so weit ging zu salutieren. Aber er trat einen halben Schritt zurück und machte eine leichte Verbeugung. »Heiliger Vater.«
Heiliger Vater? Aber das konnte doch nicht … Endlich erkannte ihn auch Rachel. Er wirkte älter als im Fernsehen und auf Fotos und er trug keinen weißen Mantel, sondern einen einfachen, aber eleganten Straßenanzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte und war barhäuptig. Sein längliches, scharf geschnittenes Gesicht war von tiefer Sorge gezeichnet und er wirkte auf eine Art müde, die sie nicht völlig nachempfinden konnte, die sie aber schaudern ließ.
Doch es gab keinen Zweifel, dass sie dem Stellvertreter Gottes auf Erden gegenüberstand, dem Oberhaupt der katholischen Kirche, dem ersten Papst, der im neuen Jahrtausend gewählt worden war.
Warum war sie eigentlich überrascht? Während Papst Johannes Petrus II. mit gemessenen Schritten um den Tisch herum auf sie zukam und sie ihn anstarrte, wurde ihr klar, dass es vom ersten Augenblick an gar keine andere Möglichkeit gegeben hatte. Sie hätte es wissen müssen, allerspätestens seit dem Moment, als ihr Benedikt erzählt hatte, für wen man sie hielt und welche Rolle sie spielte. Aber es gab Dinge, die … konnten einfach nicht sein, und von einer Bande wild gewordener Terroristen aus ihrem normalen Leben herausgerissen, quer durch Europa gejagt und schließlich von einem Hauptmann der Schweizergarde gerettet und zu einer Privataudienz zum Papst gebracht zu werden, das gehörte ganz eindeutig in diese Kategorie.
Rachel wurde klar, dass sie sich auf dem besten Weg zu einem hysterischen Anfall befand. Sie riss sich mit aller Macht zusammen und schaffte es auf diese Weise immerhin, seinem Blick standzuhalten, auch wenn sie nicht ganz sicher war, wie.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, Sie unbeschädigt vor mir zu sehen«, sagte der Papst. »Sie sind doch unverletzt?«
Die Sorge in seiner Stimme war echt, begriff Rachel. Sie fühlte sich immer noch wie erschlagen. Ganz egal, was sie über die Kirche und ihr Oberhaupt auf Erden auch gedacht oder gesagt haben mochte (vieles davon war nicht besonders schmeichelhaft gewesen): sie spürte die unglaubliche Autorität dieses Mannes, nicht einmal der Person, die vor ihr stand, sondern des Amtes, der Macht, die er verkörperte und die das Zimmer ausfüllte wie eine greifbare Aura. Sie hatte Autorität niemals anerkannt, ganz gleich welcher Art, und sie hatte sich immer eingebildet, immun gegen die Art von Gefühlen zu sein, die sie nun überfluteten, aber das stimmte nicht. Es war ein Schock und sie hatte ihn noch längst nicht überwunden. Sie hatte noch nicht einmal damit angefangen, ihn wirklich zu begreifen.
»Wir schon, aber er nicht.« Sie fragte sich allen Ernstes, wer diese Worte gesagt hatte, und begriff es nicht einmal dann sofort, als sie selbst die Hand hob und auf Frank deutete. In diesem Moment beneidete sie ihn fast, denn er hatte offensichtlich gar nicht registriert, wer hereingekommen war. Er sah den Papst an, aber sein Blick war leer und schien geradewegs durch ihn hindurchzugehen.
Der hoch gewachsene Mann mit dem gelichteten grauen Haar nickte. »Ich habe davon gehört. Und es tut mir aufrichtig Leid. Mein persönlicher Leibarzt ist bereits auf dem Weg hierher und wird in wenigen Minuten eintreffen.«
Wie gerne hätte Rachel in
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