Flut: Roman (German Edition)
blickte es eine Sekunde lang vollkommen verständnislos an und hob es schließlich ans Ohr. Ihre Hand zitterte so heftig, dass sie Mühe hatte, es überhaupt zu halten. »Ja?«
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ich bin in zwanzig Sekunden bei Ihnen.«
Trotz der schlechten Übertragungsqualität erkannte sie die Stimme sofort – auch wenn es eigentlich unmöglich war. »De Ville?«
»Schön, dass Sie sich wenigstens an meinen Namen erinnern. Und jetzt bleiben Sie gefälligst, wo Sie sind!«
Rachel ließ das Gerät sinken und sah sich mit klopfendem Herzen um. Der Streifenwagen war fast heran, aber er stoppte nicht, wurde nicht einmal langsamer, sondern schlitterte in einer Gischtwolke um die Kurve und beschleunigte sofort wieder. Der zweite Wagen hingegen wurde langsamer und kam schließlich unmittelbar neben ihr am Straßenrand zum Stehen. Eine eiskalte Welle schwappte aus dem Rinnstein und durchtränkte ihre Schuhe, aber das bemerkte sie nicht einmal. Die hintere Tür des Wagens flog auf und ein kreidebleicher und ziemlich verärgert aussehender De Ville starrte zu ihr heraus.
»Steigen Sie ein!«, befahl er.
Beinahe jeder Mensch gehorcht ganz instinktiv, wenn er einen Befehl in entsprechendem Ton erhält, und Rachel machte in diesem Moment keine Ausnahme; aber sie tat nur einen einzigen Schritt und blieb dann wieder stehen. Ihre Gedanken rasten. Sie hätte nicht aussteigen sollen. Sie hätte bei Darkov im Wagen bleiben sollen und –
»Steigen Sie ein!«, sagte De Ville noch einmal. Dann wurde seine Stimme einen Deut versöhnlicher, aber wirklich nur eine Winzigkeit. »Machen Sie es doch nicht noch schlimmer, ich bitte Sie!«
Rachel zögerte noch eine allerletzte Sekunde, dann stieg sie zu De Ville in den Wagen.
De Ville beugte sich über sie, zog die Tür mit einem unnötig heftigen Knall ins Schloss und nahm ihr mit der gleichen Bewegung das Telefon aus der Hand.
»Ich bin froh, dass Sie nicht versucht haben zu fliehen«, sagte er. »Ihre Situation ist auch so schlimm genug.« Er wandte sich mit einer entsprechenden Geste an den Mann hinter dem Steuer, einen jungen Polizeibeamten, der eine schwarze Lederjacke trug und seine Mütze neben sich auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Scheinbar sah er konzentriert nach vorne, aber sein Blick wanderte auch immer wieder nervös zum Rückspiegel.
»Wenden Sie. Wir fahren zurück in die Stadt.«
Während der Wagen zweimal vor- und zurücksetzte, um auf der schmalen Straße zu wenden, drehte sich Rachel im Sitz herum und blickte in die Richtung, in der Darkov und der Streifenwagen verschwunden waren.
»Machen Sie sich keine Hoffnungen«, sagte De Ville. »Er hat keine Chance. Jede Straße und jeder Feldweg ist abgeriegelt. Wir kriegen Ihren Freund.«
»Er ist nicht …«
De Ville unterbrach sie mit einem ärgerlichen Kopfschütteln. »Ich weiß, was er ist und was er nicht ist«, sagte er. »Sparen Sie sich die Mühe. Ich habe weder Zeit noch Lust für irgendwelche Spielchen.«
Rachel sah ihn fragend und verwirrt an. Sie verstand nicht genau, worauf er hinauswollte.
»Wussten Sie, dass man die Dinger anwählen kann, ohne dass es klingelt oder die Nummer im Display erscheint?« De Ville wedelte mit dem Handy, das er ihr abgenommen hatte, herum. »Ersparen Sie es mir also bitte, mir irgendwelche ausgedachten Geschichten anhören zu müssen. Wir haben jedes Wort gehört.«
»Sie werden ihm nichts tun, oder?«, fragte Rachel.
»Das kommt ganz auf ihn selbst an«, antwortete De Ville. »Wenn er Widerstand leistet …« Er hob die Schultern. »Nach dem, was heute Vormittag in der Stadt passiert ist, sind die Beamten ziemlich nervös, fürchte ich. Wer will es ihnen verdenken?«
»Wenn Sie jedes Wort gehört haben, dann wissen Sie ja auch, dass er nichts mit diesen Verrückten zu tun hat«, antwortete Rachel.
»Da habe ich etwas anderes gehört«, sagte De Ville. Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht. Nach allem, was dieser Bursche mit Ihnen gemacht hat – Sie sollten sich vielleicht besser Sorgen um sich selbst machen, nicht um diesen Verrückten.«
»Bin ich verhaftet?«, fragte Rachel.
De Ville sah sie eine Sekunde lang abschätzend an. »Wenn ich jetzt nein sage, steigen Sie dann aus und gehen zu Fuß weiter?«, fragte er dann, schüttelte aber auch zugleich den Kopf. »Nein. Sie sind nicht verhaftet. Ich habe gar nicht die Befugnis, sie festzunehmen – und übrigens auch keinen Anlass.« Er wedelte erneut mit dem Handy.
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