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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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Haare, buschige Augenbrauen und ein verschmitztes Grinsen.
    »Du weckst halb Lübeck mit deinem Gebrüll. Tut’s sehr weh? Ich meine, das muss doch wirklich brennen.«
    Das Erste, was Rungholt dachte, war: Sinje hat dich umgebracht! Sie hat dir ein brennendes Eisen bis in die Brust gerammt und dich zu ihm geschickt, weil du nicht sofort zu ihr gegangen bist. Ihre Rache. Ich bin tot. Ich bin in der Wrasenstadt. Ich bin bei …
    »M-M-M-Marek!«, stammelte er und spürte noch immer die Flammen in seinem Rücken. Er kniff die Augen zusammen, blinzelte – einmal, zweimal – und neigte den Kopf. Doch die Gestalt wich nicht. Nein, dieser Marek hatte ein zugeschwollenes Auge und zwei Striemen auf der Stirn. Und dieser Marek verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen.
    »R-R-R-Rungholt?«, sagte die Gestalt.
    Er war es wirklich.
    Sein Kapitän. Marek Bølge.
    Lebend und alle Knochen noch beisammen, stand er vor dem geschundenen Rungholt und griente.
    »M-M-M-Marek«, stammelte er abermals.
    »Ich hasse den Landweg! Das sag ich dir aber.«
    Obwohl die Schmerzen es kaum zuließen, fiel Rungholt in Mareks Lachen ein.

15
    Ein Dutzend, zwei Dutzend Leichen am Waldrand. Die Bäume, bloß stakende Striche, die Toten gekritzelte Männchen.
    Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht. Gleich zwei kleine Ohren dran, dass es nun auch hören kann. Kleine Butter kugelrund, wie ein Käs’ so gesund …
    Die mit Tinte auf schlechtem Pergament hingekritzelten Zeichnungen, ein Bild gar auf Rinde gemalt.
    Wie Kinderbilder anmutende Skizzen wechselten sich mit gestochener Schrift ab, die eindeutig von zwei professionellen Schreibern stammte. Das meiste war in gutem Latein und Deutsch verfasst, einiges in Kyrillisch. Fremde Zeichen, die Kerkring nicht deuten konnte.
    Punkt, Punkt, Komma, Strich …
    Er sah sie förmlich vor sich: die vor Kälte steifgefrorenen Bauernhände, die versucht hatten, Winfrieds Kundschafter das Geschehene zu erklären. Zwei Bauern, drei überlebende Soldaten und ein Mädchen, das Schweine im Wald gehütet hatte. Sie alle hatten vor Jahren Winfrieds Gesandten das Gemetzel am Waldrand beschrieben. Das Blutbad an den Deutschen Ordensrittern, das Blutbad an der Scheune. Das Blutbad unweit Rigas. Rungholts Schuld.
    Einen Menschen töten ist das eine, mit der Sünde leben etwas anderes. Seid Ihr dem gewachsen?
    Nicht das erste Mal seit dem Zusammentreffen mit Rungholt hatte Kerkring die Kirschholzschatulle unter dem losen Dielenbrett herausgezogen, auf dem sein wuchtiger Stuhl stand.
    Nicht zum ersten Mal seit gestern Morgen – zum wohl hundertsten Mal in den drei letzten Jahren hatte er das Sündenbuch vor sich auf den Schreibtisch gelegt.
    Facinora perscripta peccatoris Rungholt war mit gestochener Schrift auf den ledernen Einband geschrieben. Die exakt verzeichneten Untaten des Sünders Rungholt.
    Es gab Seiten in diesem Codex, die faszinierten ihn einzig aus Lust an der barbarischen Grausamkeit. Rungholt soll einem Mann den Kopf mit bloßen Händen abgerissen und einem zweiten die Augen ausgestochen haben, bevor er sein Herz aß.
    Andere Seiten sprachen von einer Frau, einer gewissen Irena, die er im See hinter der Scheune ertränkt haben soll. In dem Meer aus Toten, aus gefrorenen Leichen, soll er die noch lebende junge Frau gepackt haben. Er hat ihr einen Dolch ins Herz gerammt und sie ins Eiswasser geschleudert. Das Hudemädchen aus Ogresgals gab zu Protokoll, der Mann habe … »am Wasser gekniet und die Zähne gefletscht wie ein mordlüsterner, wilder Hund«.
    Ligawyi.
    Kerkring wusste, dass der Hohe Rat die Echtheit dieses Buchs niemals in Frage stellen würde – aus einem einfachen Grund: Rungholts steter Begleiter, sein bester Freund, der verstorbene Rychtevoghede Winfried der Kahle hatte viele der Zeugenberichte gegengezeichnet, hatte Abrechnungen über seine Boten und Gesandten ins Russenland aufbewahrt und auf den letzten Seiten die Heilige Kirche in Rom angefleht, seinen Freund mit Hilfe dieses fulkomme Uffschrieb von sämtlichen Sünden reinzuwaschen. Es trug Brief und Siegel eines der angesehensten Männer Lübecks.
    »Welche Ironie«, sprach Kerkring flüsternd zu sich selbst. »Welche Ironie. Wolltest die Seele deines Freundes retten, Winfried, und bringst ihn auf den Köpfelberg. Aufs Rad gebunden mit der Sünden Last. Nicht heute, nicht morgen. Nein, dann, wenn ich es will.«
    Seine Augen juckten. Er rieb sie behutsam, träufelte sich etwas Wein auf die Fingerspitzen und wusch sie

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