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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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damit aus.
    Vor der Morgenmesse hatten die beiden Bürgermeister, die höchsten Ratsmitglieder sowie Kerkring und sein Amtskollege in St. Marien heftig gestritten. Es ging um die letzte Bleibe für die Verhungerten, und noch immer konnte man sich nicht durchringen, Massengräber wie zu Pestzeiten auszuheben. Stattdessen hatten Dartzow und Methaler, als die beiden Bürgermeister, die in Lübeck weilten, schließlich verfügt, die Totengräber besser zu bezahlen und sie anweisen zu lassen, weitere Hilfskräfte einzustellen. Außerdem sollte Dartzow mit einer Bursprake vor das Volk treten und gut Wetter machen. Obwohl einige der einflussreichsten Kaufleute meinten, eine Bürgeransprache werde bloß als Zeichen der Schwäche gedeutet, hatten sich Kerkring und der Fiskal für die Ansprache entschieden.
    Vor allem erhoffte sich Kerkring, dadurch die Bevölkerung zu beschwichtigen und Zeit zu gewinnen. Er brauchte einfach ein paar mehr Tage, um die Kinder zu finden. Als sie ihn gefragt hatten, wie weit er mit seinen Nachforschungen sei, hatte Kerkring mit seinen Worten eine helle, große Kerze entzündet und sie alle geblendet. Wirklich weiter war er nicht. Keinen Schritt.
    Heute Nacht im Bett hatte er den Ratten zugehört, die vor dem Wasser geflohen und fiepend im Hinterhof herumgelaufen waren, und sich eingestanden: Ich weiß nichts. Ich stochere im nassen Nebel und fiepe wie eine Ratte. Ich habe keine Ahnung, was mit den Kindern geschieht. Ob sie noch leben, wo sie sind.
    Wir alle haben Angst wie die Ratten, dass die Flut der Knochenhauer und Wakenitzschiffer die Türen des Rathauses aufdrückt und uns mit sich reißt.
    Angewidert vom Blendwerk seiner eigenen Ansprache, war er heute Morgen in seine Amtsstube im Laubengang geeilt und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Schließlich hatte er sich Rungholts Sündenbuch vorgenommen und noch einmal überlegt, ob er auf diesen unsäglichen Mann zugehen sollte.
    Der Regen klopfte gegen die Butzenscheiben, und der Wind ließ die Läden klappern. Er hatte sie noch nicht geöffnet, obwohl der Tag längst angebrochen war.
    Gewöhnlich saß er gerne hinter seinem wuchtigen Schreibtisch und ging die Schriftstücke durch. Der Geruch der Pergamente und die schiere Größe der Tischplatte, die Aussicht auf den Markt, wenn er grübelnd durch die Butzenscheiben blickte, seine Regale voller Schuldsprüche, all dies verlieh ihm Stärke. In diesem überschaubaren Kosmos seiner Rathausstube gab es nur einen Herrscher.
    Der Gedanke an Ordnung, an Recht und die sichere Hand, seine Hand, die dieses Recht durchsetzte, ließ gewöhnlich die Säfte in ihm glusam werden. Erhabene Gedanken eines erhabenen Mannes.
    An diesem nassen Morgen im Juli 1394 jedoch hatte ihm geschwindelt. Die Stadt war so fern von Gottes Gnade, das Recht so fern wie lange nicht. Was seine Schreiber ihm an Aussagen über die verschwundenen Kinder und den Aufruhr im Volke hereinreichten, war erschreckend. Wie ein Feuer breitete sich unter dem Pöbel die Meinung aus, der Rat hätte mit dem Verschwinden zu tun.
    Er schob das Sündenbuch beiseite und zog sich noch einmal die Pergamente heran, in denen die Eltern über das Verschwinden ihrer Kinder berichteten.
    Acht Kinder. Allesamt zwischen acht und zehn Jahre alt. Die Zwillinge einer Magd, der Sohn eines Töpfers, der Sohn eines Kürschnergesellen, eines Bernsteindrehers, eines Erdarbeiters, der kleine Bruder eines Fleischhauers, Mornewechs Peterchen.
    Auffallend viele Handwerkerkinder. Ein Zufall? Seit drei Wochen versuchte Kerkring nun schon, das herauszubekommen. Langsam festigte sich in ihm das Gefühl, jemand wolle den Brand zu einem Flächenbrand ausweiten und mit der Entführung der Kinder die Gemüter anheizen.
    Verschwinden mehr Kinder von Handwerkern, und der Rat sieht zu, gießt dies Tran in die Flammen derer, die uns aus dem Rathaus jagen wollen. Waren es die Aufwiegler? War es möglich, dass die so perfide vorgingen und die Kinder ihrer Gesellen, ihrer Boten und der Ärmsten unter sich opferten, um mehr Mitsprache zu erlangen? War das denkbar? Dumme Frage. Er dachte es bereits.
    Ob Rungholt trotz seiner Drohung dem Fall nachging? Sicherlich. Dieser ekelhafte Frevler hatte sich noch nie an irgendwelche Regeln gehalten. Ehrlos, vermessen und voller Zorn torkelte dieses Fass durch Lübeck. Rungholts Benehmen war eines Hansa nicht würdig.
    Kerkrings Blick glitt noch einmal zum Sündenbuch.
    Blutbad, Massaker. Entführte Kinder, Peterchen. Mein Gott, dachte er.

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