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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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Peterchen. Die Bilder von der Leiche schossen wie Pfeile einer Armbrust durch seinen Kopf. Schmerzhaft und blitzschnell: der Keller voller Blutwasser, die Abgeschlachteten.
    Auch wenn er Rungholt gerne auf dem Köpfelberg sehen würde, hatte dieser Mann doch seinen Spitznamen nicht zu Unrecht. Immerhin war es ihm die letzten Jahre öfter gelungen, Mörder festzusetzen.
    Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er musste den Kopf freibekommen.
    Er schob die Pergamentrollen mit den Aussagen der Eltern beiseite, öffnete das Fenster und stieß die Fensterläden auf. Der Regen peitschte in sein Gesicht. Der Marktplatz war wie ausgestorben. Als ein Windstoß seine Unterlagen zu verwehen drohte, schloss er die Butzenfenster.
    Er stellte sich an die Scheibe und sah dem Regen zu, der daran hinabrann. Tausend dicke Tränen, dachte er.
    Kerkring konnte das Schluchzen hören. Leise schluchzte es, und der Fensterladen rappelte im Wind … Der Himmel weinte seit Wochen. Er hielt inne und horchte. Nicht der Fensterladen klapperte, sondern seine Tür. Und das Schluchzen … Es weinte tatsächlich jemand. Ein Kind.
    Er sprang zur Tür, wollte sie schon öffnen, bemerkte aber, dass noch immer Rungholts Sündenbuch aufgeschlagen auf seinem Kirschholzschreibtisch lag. Schnell griff er es, zog die Schublade des Tisches auf. Ohne eine Regung packte er Rungholts Brille und Van der Hunes Finger beiseite, ein zwei Jahre altes Andenken an den Schlächter von Visby, der ihn damals das Amt gekostet hatte. Der verschrumpelte, brüchige Finger machte sich gut neben dem Sündenbuch
    Das Schluchzen war noch immer zu hören, oder bildete er es sich …? Nein. Jemand drückte die Klinke, riss und presste am Türblatt.
    Kerkring eilte erneut hin und drehte den Schlüssel, da hörte er ein geschluchztes »Papa« von der anderen Seite. Es war tatsächlich Marie, seine jüngste Tochter.
    Weinend stand sie vor der Tür, streckte die Ärmchen aus, wollte hochgenommen werden.
    »Marie? Was machst du denn hier?« Er hob sie hoch und drückte sie an sich. »Was ist denn passiert?«
    »Aua gemacht. Blut. Guck da.« Sie zeigte ihm den Zeigefinger. Auf einer winzigen Wunde saß ein Tröpfchen.
    Kerkring pustete und strich ihr über die Wange.
    »Vogel war da. In meiner Kammer. Zeigen will.«
    »Du willst mir einen Vogel zeigen? Wo ist denn Mama?« Er begriff immer noch nicht, wie seine dreijährige Tochter hierhergekommen war.
    »Nicht da.«
    »Du bist allein durch die Stadt?«
    »Ja. Vogel zeigen, Papa. Hübsch war. In meiner Kammer war.«
    Sie blickte zu Boden, erst jetzt sah er das Tier. Er kannte sich mit Vögeln nicht aus, wusste nicht, was dieser für einer war. Vielleicht ein Spatz? Sie hatte ihn gegen die Tür geworfen und ihm so den Hals gebrochen. Erneut begann sie bitterlich zu weinen.
    »Der mir Aua gemacht. Ich habe worfen. Angst gehabt.«
    »Ist gut. Ist schon gut.« Er drückte sie an sich und spürte, wie er zitterte. Wie konnte sie bloß allein durch die ganze Stadt rennen? Mit einem Vogel in der Hand? Kerkring schmiegte seinen Kopf an Maries Haar und atmete ihren Duft ein.
    All die Familien, all die Väter und Mütter, die kein Kind mehr an sich drücken, die Haare nicht mehr riechen konnten …
    Es musste etwas geschehen.
    Und Rungholt?
    Was war, wenn Rungholt tatsächlich ermittelte? Was, wenn er etwas herausgefunden hatte, was ihm und seinen Bütteln entgangen war? Sollte er nicht doch zu ihm gehen?
    Sich entschuldigen? Für seine Drohungen?
    War es möglich, mit diesem Ehrlosen aus der Engelsgrube einen Pakt zu schließen? Einen Pakt gegen die Kindesentführungen und für ein besseres Lübeck. Rungholt hatte die Eingebungen und die Erfahrung. Er die Macht und die Männer.
    Bei dem Gedanken, dass sie diesen Fall womöglich bloß gemeinsam lösen konnten, wurde ihm übel.
    Er küsste Maries Wange und fasste den Entschluss, sich Rat zu holen.
    Zum Glück kannte er jemanden, der stets wusste, was Kerkring zu tun hatte. Sein Blick glitt noch einmal zu dem Vogel, der verrenkt auf seiner Schwelle lag. War das ein Zeichen?

16
    Wie zwei klapprige Greise hielten sich Rungholt und Marek an den Händen, stützten sich gegenseitig und ließen sich langsam ins heiße Wasser hinab. Jede Bewegung tat ihren Knochen weh, schon das Waschen und Abschrubben mit Lauge, das alle Badenden über sich ergehen lassen mussten, bevor sie in die Tröge durften, war eine Tortur gewesen.
    Die mächtigen Holzbottiche liefen wegen der großen Anzahl Badender über. Wasser

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