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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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jetzt, oder glotzt du nur?«
    »Da geht’s noch zwei Stockwerke hoch. Wieso willst du da überhaupt rauf?« Er hielt Rungholt die Hand hin und half ihm hoch. Anstatt sich aufzurichten, krabbelte Rungholt wie ein Kleinkind von der Leiter hinüber auf die Bohle.
    »Ich brauche einen Überblick«, keuchte er.
    »Hast du mal in die Wolken gesehen? Dazu muss man nicht Kapitän sein, das wird einen schönen Sturm geben.«
    Rungholt, der noch immer auf allen vieren hockte und nicht recht wusste, woran sich festhalten, blickte auf. Über ihnen war der Himmel genau wie heute Morgen und die letzten Tage: ein schlichtes Grau in Grau. Doch am Horizont zeichnete sich jetzt eine pechschwarze Wand ab. Abertausende Schiffsladungen Tinte, ausgekippt ins Wolkenmeer. Unaufhörlich walzte dieses Schwarz sich auf Lübeck zu. Rungholt meinte sogar, erste Blitze aufflackern zu sehen, obwohl das Gewitter sicher noch sechs Meilen entfernt war.
    »Wir müssen weiter rauf«, war zu Mareks Erstaunen Rungholts einziger Kommentar. Er packte die Hand des Kapitäns und zog sich an ihm hoch.
    »Wir müssen dann auch wieder runter, Rungholt.«
    »Was du nicht sagst. Ich bin fett, aber nicht blöd.«
    Nach dem Beinaheunfall genoss es der Kapitän sichtlich, Rungholt überlegen zu sein. Um Mareks Körperbeherrschung hatte Rungholt den Schonen stets beneidet. Behände packte der die Leiter, zog sie in einem Zug hoch, erklomm sie flugs und tauchte durch einen Bodenauslass. Weniger als zwei Atemzüge, und er stand über Rungholt.
    Die Sprossen knarrten, und das Gerüst wankte bedenklich, als Rungholt die Leiter erklomm, sich an die Streben klammerte und die Schnabelschuhe auf die rutschigen Sprossen setzte. Nicht alle mit Hanfseil verknoteten Streben würden Rungholts Gewicht standhalten. Schon hier unten, nicht mal auf Höhe des zweiten Stocks, blies der Wind harsch und kalt, schlug ihm den Regen ins Gesicht und tränkte seine viel zu leichte Schecke. Er tastete sich an die Kante der Bodenklappe vor und hielt sich fest. Gründlich ließ er seinen Blick über den Grützmachergang unter ihnen schweifen. Da war die Mauer, der Karren, die Stelle, an der sie den Kinderschädel gefunden hatten. »Weiter hoch.«
    »Sicher?«
    »Weiter hoch. Komm, kletter vor.«
    Rungholt vermied es nun, nach unten zu sehen. Er nahm die Leiter noch langsamer. Seine Hände verkrampften sich beim Festhalten so stark, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
    Atme … Ein, aus … Atme …
    Als Rungholt Marek nachsah, wurde ihm übel, denn er meinte, die obersten Bohlen, auf die sich der Kapitän zog, bedrohlich wackeln zu sehen. Sowieso schwankte das ganze Gerüst bei jeder Böe.
    »Komm. Du wolltest es so, oder?« Der Regen tropfte Marek vom Kopf, als er sich zu Rungholt hinabbeugte und ihm seine Hand entgegenstreckte.
    Zitternd, in Panik, seine Schnabelschuhe könnten sich verhaken und Alheyds dämliche Trippen abrutschen, schob Rungholt seinen großen Schädel durch die oberste Luke.
    Er wollte sich irgendwo festklammern, aber außer Mareks nacktem, behaartem Bein gab es nichts.
    »Brauchst dich nicht zu ekeln«, beruhigte Marek ihn, der sichtlich Gefallen an der Kletterei gefunden hatte. »Hab grade gebadet.«
    »Sehr witzig.« Sie mussten laut gegen das Heulen des Windes und das Prasseln anreden.
    »Zieh dich rauf. Hier kann man gut stehen, keine Angst.«
    »Die hab ich aber. Ich weiß, wie weh das tut, den schnellen Abstieg zu nehmen. Ist nicht lange her, seit ich’s ausprobiert hab.«
    »Zieh dich einfach an mir hoch.«
    Er fixierte Marek, umschloss dessen rechtes Bein und setzte erst einen aufgeweichten Schnabelschuh, dann den anderen aufs Brett und zog sich schließlich an seinem Kapitän gänzlich auf die Füße.
    »Das ist … Das ist … wie auf der Möwe«, schwärmte Marek mit glühendem Blick, ließ Rungholt stehen und schritt fuchtelnd die Bohle ab. »Du stehst an Deck. Ein Sturm zieht auf. Die Gischt spritzt dir ins Gesicht. Die Kogge rollt, der Wind pfeift. Du denkst an Lübeck, an dein Zuhause, und du fühlst dich frei.«
    »Beschreib’s mir noch in allen Farben, dämlicher Schone.« Rungholt wurde schlecht. Dieses verdammte Gerüst schwankte tatsächlich wie eine Kogge im Wind, und er musste freihändig stehen …
    »Schau mal.« Marek packte einen der Gerüstpfeiler und begann, an dem Holz zu rütteln. »Die brave Möwe fährt unter Sturm. Das Segel bläht sich. Einholen, sag ich! Einholen! Hoooolt die Seeeeegel ein.«
    »Aufhören! Marek!« Kreidebleich

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