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Föhnfieber: Kriminalroman (German Edition)

Föhnfieber: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Föhnfieber: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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zusammen wohnt, sozusagen auf Schritt und Tritt. Ich bin hier,
um meine Tochter zu schützen. Wer bist du? Wer schickt dich?«
    »Wer’s glaubt.
Sie sind es, der herumstreicht. Ich schreie gleich, Sie belästigen mich!«
    »Das wirst
du schön bleiben lassen. Du zeichnest gut, außerordentlich gut. Du siehst Dinge,
die andere nicht sehen, du hast nicht nur ein Auge fürs Ganze, sondern auch fürs
Detail, für die Komposition eines Gebäudes und eines Bildes. Du erfasst eine Stimmung,
eine Atmosphäre, die sind da. Du bist ein künstlerischer, feinsinniger Mensch. Darum
kannst du nicht wollen, dass einem Menschen etwas geschieht. Nicht meiner Tochter,
nicht dem Jungen. Hab’ ich recht?«
    Es gab keinen
Grund zu schreien, er hatte eine angenehme Stimme, aufrichtig, überhaupt nicht zudringlich.
Er war ruhig und wollte mir etwas sagen.
    »Du bist
noch fast ein Kind und gut erzogen. Ich weiß, dass du mit einem Unbekannten nicht
irgendwohin zu einem Treffen gehst. Ich weiß auch noch nicht, ob es überhaupt gut
ist, wenn man uns zusammen sieht. Ich bin relativ alt, also ist es für mich nicht
so wichtig, doch du gehst den beiden nach, bist interessiert, das könnte falsch
sein, gefährlich. Du weißt, was Gefahr ist?« Ich beobachtete ihn aufmerksam, er
war alt, älter als mein Vater, mindestens 65. Er brauchte keine Gesichtscremes mehr,
ein Netz von Fältchen überzog seine Haut. Offensichtlich hielt er sich vorwiegend
im Freien auf. Seine hellen Augen gefielen mir, überhaupt hatte er fein geschnittene
Gesichtszüge, sah aus wie ein alter Indianer.
    »Du weißt,
Francis’ Eltern hatten einen schweren Unfall. Fast wäre meiner Tochter das Gleiche
passiert. Sie ist um ein Haar von einem Riesenstein erschlagen worden, jenem, der
sich von der Münsterplattform löste. Es könnte sein, dass jemand dies absichtlich
tat. Darum bin ich hergekommen, ich lebe in Alaska, also ziemlich weit weg. Ich
denke aber jetzt, dass der Stein dem Jungen galt. Sie trug seine Pelerine, es war
starker Regen. Man könnte sie verwechselt haben.«
    Mittlerweile
waren wir gemeinsam die Gasse hinuntergegangen, standen jetzt vor dem Münster, starrten
auf die Figuren, die das Portal, die ganze Front bebilderten, das Gericht und so,
die Heiligen, die Guten und die Gefallenen. Die Gewänder der großen gotischen Kathedralfiguren
stehen am Rücken oft offen, Fleisch und Knochen liegen bloß, daraus ringeln sich
Würmer und Schlangen. Frau Gödel hat uns Bilder gezeigt. Dies war damals ein Parallelbild
zum Totentanz, zuletzt verfaulen wir alle; oder etwas erhabener ausgedrückt: Für
die Volksphilosophie war es ein durchaus übliches Bild für die Vergänglichkeit der
Welt. In der ersten Primarklasse erkundeten wir die Stadt. In zwei dieser Figuren
erkannte ich auf den ersten Blick Wilma und Vater, vor allem mit ihren hochmütigen
Gesichtern, der arroganten Haltung und den schönen Kleidern. Meine Mama war tot,
im Grab, Würmer hatten längst alles Fleischige weggetragen. So würde es auch Wilma
und Vater ergehen. Es war eine Erleichterung, das zu denken. Doch damals und jetzt
wieder, ich sah Echsen, Kröten und spinnenähnliche Wesen, grinsende, fletschende,
fauchende Fratzen sich durch ihre Rücken wühlen. Bei dieser Sicht wusste ich gleich
beim ersten Mal, das war das Böse, das die Pfarrer in der Kirche und neu auch die
Religionslehrerin meinten. Es war in den Menschen drinnen, man sah es, wenn man
sie öffnete. Vor dem Spiegel versuchte ich unter Verrenkungen, meinen eigenen Rücken
zu sehen; es käme von innen heraus. Ich versuchte zu fühlen, ob sich dort etwas
ringle. Wie gut war es, katholisch zu sein. Ich konnte zu Michael beten, dem großen
Engel, der alles Gewürm vernichtet. Es war einigermaßen wohlig zu fühlen, wie er
seine Flügel seufzend um mich legte.
     
    *
     
    Ich mag versponnen sein, ich mag
fantasievoll sein, ich mag Dinge sehen, die andere glatt verneinen, doch ich muss
auch jetzt wissen, in welcher Ebene ich mich bewege. In der real existierenden Welt
brauche ich sinnlich fassbare und benennbare Fakten.
    Warum bin
ich ansprechbar, wenn von Werten geredet wird, weiß, das ist meine Welt, so muss
die Welt sein, als wäre ich am Verdursten und fände Wasser? Und dann dieser Riss
in meiner scheinbar kompakten Welt, eine Fratze erscheint, und anstatt dass es sich
um Einbildungen handelt, ist es der Teufel persönlich. Ein Doppelteufel oder der
Teufel und seine Großmutter.
    Es war wahr.
Ich hatte meinen Horchposten verlassen und

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