Fool on the Hill
mußte, doch sie war ungesattelt, und ihre Farbe - olivgrau mit mitternachtsschwarzer Mähne - kam ihm völlig unbekannt vor.
»Wir sollten einen Spazierritt machen«, schlug Aurora vor.
»Hm?« Der Geschichtenerzähler war momentan geistesabwesend; er hatte das Tier am Kopf gestreichelt und dabei entdeckt, daß sich die Mähne verwirrend vertraut anfühlte. »Wir sollten einen Spazierritt machen«, wiederholte Aurora. Sie kam näher und tätschelte das Pferd. »Das ist dir doch recht Mädchen, oder?«
Die Stute wieherte, wie Aurora fand, bejahend; George kam nicht ganz mit.
»Sagtest du reiten?« fragte er.
»Klar doch.« Aurora trat einen Schritt zurück und schwang sich dann mühelos auf den blanken Pferderücken.
»Aber das Pferd hat ja gar keinen Sattel«, protestierte George.
»Ist schon okay - ich zeig dir, wie du’s machen mußt.«
»Du zeigst mir... willst du damit sagen, daß du das Tier da fahren kannst?«
»Ach, komm schon, George«, sagte Aurora. »Ich komm schließlich aus Wisconsin.«
Damit schien die Sache geklärt. Sie streckte ihm die Hand hin, und er griff danach. Ein paar schwarze Mähnenhaare hatten sich zwischen seinen Fingern verfangen. Als sich ihre Hände berührten, versetzte es George einen Schlag, und wie durch Zauberei saß er auch schon hinter ihr auf dem Pferd und hatte die Arme um ihre Taille geschlungen.
Der Ritt schien zugleich eine Ewigkeit und keine Sekunde zu dauern. Sie ritten weit, fast bis zu den östlichen Ausläufern des Cornell-Naturparks und wieder zurück, und George entdeckte durch den Rhythmus des Tieres und der Frau, daß Reiten ohne Sattel keine so furchtbar schwierige Angelegenheit war. Sie schienen schwerelos durch die Nacht zu treiben, eingefangen in einem Zauber, der sie auf Elfenbeinhufen dahintrug... es war ein langer, erfreulicher Ausflug. Um so verwunderlicher, daß weder George noch Aurora sich hinterher erinnern konnten, wann und wo ihr Ritt endete und sie das Pferd wieder laufen ließen.
Noch wußten sie später - und das war nun wirklich mysteriös -, wie sie oben in den Glockenturm geraten sein konnten. Als die Meisterin des Glockenspiels sie am anderen Morgen um Viertel vor sieben wachrüttelte, konnten sie sich überhaupt nicht entsinnen, die lange Treppe hochgestiegen zu sein (und wie waren sie überhaupt unten durch die abgeschlossene Tür gekommen?). Daß sie sich in der offenen Glockenstube aufgehalten hatten, auf einem Gipfel, der über eine weiß verhüllte Welt ragte - daran konnten sie sich schon erinnern; Ebenso daran, unendlich lange geredet zu haben - über Liebe und Träume, über Christentum und Abt Rosewinkle und über ein Dutzend anderer Themen. Ja, sie erinnerten sich sogar an Dinge, die eigentlich gar nicht möglich waren, zum Beispiel an einen kleinen alten Mann (aber wirklich klein, bestimmt nicht größer als fünfzehn Zentimeter!), der sie lange beobachtet zu haben schien und erst, als Aurora ihn schließlich angesprochen hatte, erschrocken verschwunden war.
Und was geschah noch?
Küßten sie sich? Vielleicht. Vielleicht stieg der Nebel in tiefster Nacht empor, erklomm die Mauern des Turmes und drehte die Zeiger der Uhr auf die letzte Stunde im Oktober zurück. Vielleicht küßten sie sich wirklich, spielten die Szene im Garten Lothlorien nach, wobei beide wußten (und nicht wußten), daß ihre Arme den falschen (und richtigen) Partner umfingen.
Liebten sie? Nein, wahrscheinlich nicht... noch nicht. Georges Herz gehörte noch immer Kalliope, und Auroras (so unpassend diese Verbindung auch war) Brian Garroway. Aber selbst da, wo noch keine wirkliche Liebe ist, kann doch die Möglichkeit der Liebe bestehen, und diese Möglichkeit, das Wissen darum, wirkt lange nach.
Wie lange dauerte ihre Umarmung? Wer könnte das sagen? Die Zeit hat wenig Bedeutung im Nebel und noch weniger in der Verzauberung. Sicher ist nur, daß sie eine Zeitlang sprachen, sich eine Zeitlang in den Armen hielten und dann, von einer Frau mit Musikerhänden wachgerüttelt, auf einmal unbehaglich ins Morgenlicht blinzelten.
Der Tag nach Thanksgiving hatte klar und kalt begonnen; der Herbst neigte sich rasch dem Ende zu.
Der Winter naht
Kalliope kam wie versprochen zurück, und für eine kurze Weile ging Georges Leben wieder seinen normalen Gang - was das auch immer heißen mochte. Insgeheim aber wußte er, daß seine Zeit mit ihr auslief, und deswegen liebte er sie um so heftiger; er wußte weder Tag noch Stunde, da sie ihm entrissen
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