Fool on the Hill
die Wiese vor dem Haus, um sich von der Musik zu erholen, die eine Reihe von »alternativen« Rockgruppen ununterbrochen produzierte. Nicht, daß solche Gruppen - oder jedenfalls die meisten von ihnen - nicht gut gewesen wären, aber sie wirkten in letzter Zeit paradoxerweise ein bißchen zu in. Jetzt, da der Disco offiziell tot war, wäre es vielleicht keine schlechte Idee, ihn bei den Bohemiern, nur um der Schockwirkung willen, wieder aufleben zu lassen.
Löwenherz schlürfte Midori aus einem Schnapsglas und starrte durch Alkoholdünste auf das Wohnheim. 1913 als Studentinnenwohnheim errichtet, war Risley Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zunehmend radikal geworden und hatte sich schließlich zu einer Heimstatt für Außenseiter beiderlei Geschlechts entwickelt. Vor drei Jahren hatte ein konservatives Element begonnen, sich in Risley einzunisten, und Löwenherz, damals im ersten Semester, hatte als aktives Gegengewicht dazu die Bohemia ins Leben gerufen. Sicher, viel von dem, was die Bohemier taten, war nicht im eigentlichen Sinn des Wortes originell - Löwenherz verdankte, was den Kleidungsstil seiner Mitkombattanten anging, einen Großteil seiner Einfälle Greenwich Village, wo er aufgewachsen war; die Finanzierung des kavalleristischen Aspektes der Gruppe verdankte er wiederum dem beträchtlichen, aus der Alten Welt stammenden Vermögen seiner Eltern; dennoch war der Anblick eines purpurgewandeten Reiters auf einem purpurmähnigen Pferd selbst auf der relativ liberalen Cornell University ungewöhnlich genug, um eine gewisse Verwunderung hervorzurufen und Risleys früheren Ruf wiederherzustellen.
Hatte man die Geschichte dazu bringen können, sich zu wiederholen, so schritt sie doch auch ständig voran. Da die meisten Angehörigen des harten Kerns der Bohemier (einschließlich seiner selbst und seiner Geldsäcke) in diesem Jahr ihr Studium beenden würden, begann Löwenherz sich zu fragen, wie lang es wohl noch dauern würde, bis der Rest sich verlaufen oder zu einer bloßen Clique schrumpfen würde. Auch um das Wohnheim machte er sich Gedanken und darum, wie es zurechtkommen würde ohne solche Wunderwerke wie Z. Z. Tops elektronische Maultrommel.
Noch während Löwenherz Bohemias Rolle in Risley sowie im weiteren Kontext der menschlichen Gesellschaft erwog, tauchte Kalliope, vom Glanz des Wohnheims für einen Augenblick der Dunkelheit entrissen, aus dem Nebel auf.
»Ho...« Löwenherz, von ihrem Anblick gebannt, stockte der Atem. Das Schnapsglas entfiel seiner Hand, und der Rest Midori tränkte den Rasen.
»Ho?« Kalliope fing seinen Blick auf, lächelte und brach ihm das Herz. Sie war nämlich die schönste Frau, die er je gesehen hatte und jemals sehen würde, und doch wußte er sofort mit unerschütterlicher Gewißheit, daß sie nicht für ihn bestimmt war. Als sie ihm neckisch eine Kußhand zuwarf, verlor Löwenherz jede Kontrolle über sich.
»Wer bist du?« heischte der König der Bohemier, während er einen Satz nach vorn machte, um ihrer habhaft zu werden. »Sag mir wenigstens, wer du bist...«
»Ich bin nur der Traum einer einsamen Nacht«, sagte Kalliope und lachte. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, wirbelte sie herum, ihr Kimono-Umhang glitt ihm geschmeidig aus den Fingern, und dann war sie ganz einfach nicht mehr da. Er stolperte und fiel hart auf die Erde.
»Warte!« rief er in den Nebel und klang dabei nicht mehr so königlich. »Warte doch...«
Ihr Lachen hallte noch einmal in der Ferne - es schien, als überquerte sie die Brücke - und verstummte dann. Löwenherz war drauf und dran, ihr nachzulaufen, verwarf den Plan aber gleich wieder, da er wußte, daß er sie gegen ihren Willen niemals würde fangen können. Außerdem war er gerade betrunken genug, um zu ahnen, daß es ihm übel bekommen konnte, wenn er zu aufdringlich wurde und sie belästigte.
»Sei wenigstens mit ihm nicht zu hart«, sagte der bohemische König mit schwerer Zunge und versuchte dabei aufzustehen. »Wer immer der Glückliche sein mag.« Kaum stand er wieder aufrecht, als Myoko um die Ecke kam und über die Wiese auf ihn zuging. Löwenherz meinte, noch nie so glücklich gewesen zu sein, jemanden zu sehen.
»Bist du wirklich?« fragte er, noch immer von seinem Sturz benommen.
»Was?« Myoko schwebte zu ihm. »Hast du grad ein Gespenst gesehen, Lö?«
Statt zu antworten, streckte er behutsam eine Hand nach ihr aus, als befürchtete er, daß auch sie herumwirbeln und sich in Luft auflösen
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