erwarten kannst. Du reißt mehr Stunden runter als je zuvor, kriegst aber immer weniger Geld dafür. Warum, glaubst du wohl, ist das so? Wusstest du, dass Coca-Cola-Games gerade die besten Quartalszahlen aller Zeiten vorgestellt haben? Und der gesamte Vorstand sich eine zwanzigprozentige Gehaltserhöhung genehmigt hat? Wusstest du, dass Coke systematisch MT s, die zu viel verdienen, durch Newbys ersetzt, die noch nicht den Dreh raushaben, wie man möglichst viel Umsatz macht?«
Der Bauer begann davonzulaufen, seinen Rechen über der Schulter. Wei-Dong lief ihm hinterher.
»Warte doch! So muss es nicht sein. Arbeiter können sich organisieren und faire Behandlung verlangen. Und das tun sie auch! In zwei Monaten sitzt du wieder auf der Straße. Sind dein Geld und deine Würde es nicht wert, für sie zu kämpfen?«
Der Bauer betrat sein Haus. Einen Moment lang dachte Wei-Dong, der MT habe sich wieder ausgeloggt und er spreche nur noch mit dem NSC . Doch die Bewegungen des Bauern schienen ihm irgendwie etwas zögerlich. Es war also immer noch jemand da.
»Ich weiß, dass du nicht im Spiel darüber reden kannst. Hier hast du eine E-Mail-Adresse: D9 FA 754516116E89833A5B92 CE 055E19 BCD 2 FA
[email protected]. Schreib mir eine Mail, und wir unterhalten uns in aller Ruhe darüber.«
Er hielt den Atem an. Falls der MT ihn bei den Spielbetreibern verpfiff, würde Wei-Dongs Charakter innerhalb der nächsten paar Minuten weggebombt werden, die Webblys hätten dann einen Account weniger. Der Bauer betrat aber einfach nur sein Haus, sonst geschah nichts. Wei-Dongs Herz tat einen Sprung, und dann noch einen, als er ein paar Minuten später eine E-Mail bekam.
> Erzähl mir mehr
Sie war nicht unterschrieben, aber er wusste, von wem sie kam.
»Du solltest nach Hongkong gehen«, sagte Lu zu Jie. Er hielt ihre Hand und sah ihr in die Augen. »Du kannst deine Sendung auch von dort aus machen. Das wäre doch sicherer.«
Jie wandte den Blick ab und atmete aus. Dann drückte sie seine Hand. »Ich weiß, dass du es gut meinst, Tank, aber ich will das nicht. Ich möchte, dass du damit aufhörst. Ich bin ein Webbly, genau wie du und die anderen hier. Klar kann ich die Show von Hongkong aus machen, technisch ist das kein Problem – aber worüber? Ich bin Journalistin, Tank! Ich muss hierbleiben, damit ich mitbekomme, was los ist. Ich kann nicht von Hongkong aus darüber berichten, was hier passiert.«
»Aber hier ist es nicht sicher … «
Sie schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Natürlich nicht! Ich scheiß auf die Sicherheit, seit ich das erste Mal auf Sendung war. Du bist nicht in Sicherheit, meine Mädchen in den Fabriken ebenso wenig, und die Webblys, die da draußen streiken, erst recht nicht. Wieso also sollte ich es sein?«
Lu verkniff sich die Antwort: Weil ich dich liebe. Insgeheim aber war er erleichtert. Er wusste nicht, was er getan hätte, wäre Jie nach Hongkong abgetaucht und er in Shenzhen geblieben. Ihr letztes Versteck – eine weitere Wohnung im kantonesischen Viertel – war voller Webblys, vierzig Jungen, die sorgsam ihren Blick mieden, doch er wusste, dass sie lauschten. Sie schliefen hier schichtweise, immer vierzig auf einmal, während achtzig weitere unterwegs waren. Sie arbeiteten in bestimmten Internetcafés, die ihnen wohlgesinnt waren, und achteten darauf, höchstens zu zweit oder zu dritt dasselbe Café zu benutzen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Gerade gestern waren zwei von ihnen nach der Arbeit von ein paar üblen Typen verfolgt worden, die sie systematisch und mit aller gebotenen Hingabe grün und blau geprügelt hatten, und das auf offener Straße. Die beiden Webblys lagen nun im Krankenhaus.
»Du weißt genau, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie auch dieses Versteck hochnehmen«, sagte Lu. »Irgendwer wird unvorsichtig und lässt sich verfolgen, oder einer der Nachbarn erzählt von all den Jungen, die hier rund um die Uhr ein und aus gehen, und dann … «
»Dann ziehen wir eben wieder um«, erwiderte sie. »Ich ziehe schon länger durch die Gegend, als du Trolle totschlägst. Solange meine Werbeeinnahmen fließen, bin ich bei Kasse, und solange ich noch Geld habe, kann ich auch Wohnungen anmieten.«
»Aber wie lange werden deine Werbekunden dich noch dafür bezahlen, dass du deine Mädchen drei Stunden die Nacht zum Kampf gegen ihre Bosse aufrufst?«
Ein Lächeln huschte über Jies Gesicht, jenes geheimnisvolle, selbstsichere Lächeln, das ihn immer dahinschmelzen ließ.