Forbidden
am nächsten Morgen, wenn ich aufwache, wieder da ist. Aber der andere Teil muss daran denken, dass er ja immer noch fast ein Kind ist. Ein unglückliches, selbstzerstörerisches Kind, das an der Schule in die falsche Clique geraten ist, weil es dort den Rückhalt findet, den es in der Familie vermisst. Und weil es dort von anderen bewundert wird. Vielleicht ist Kit in eine Schlägerei verwickelt worden, vielleicht spritzt er sich gerade Heroin, vielleicht begeht er irgendein Verbrechen und zerstört sein Leben, bevor es richtig begonnen hat. Oder noch viel schlimmer, vielleicht ist er das Opfer eines Überfalls oder von einer verfeindeten Clique in eine Falle gelockt worden. Er hat schon einen gewissen Ruf im Viertel. Womöglich liegt er irgendwo blutend und mit einem Messer im Rücken odereiner Kugel im Bauch. Mag sein, dass er mich hasst, mag sein, dass er mir Vorwürfe macht, mag sein, dass er mich für alles verantwortlich macht, was in seinem Leben falsch läuft. Aber wenn ich ihn aufgebe, hat er niemanden mehr. Sein Hass auf mich wird dann gerechtfertigt sein. Nur, was kann ich tun? Er weigert sich, sein Leben mit mir zu teilen, deshalb weiß ich nicht wirklich, wer seine Freunde sind oder wo er sich mit ihnen normalerweise herumtreibt. Ich habe noch nicht mal ein Fahrrad, um damit die Straßen abzusuchen.
Die Uhr zeigt jetzt Viertel vor drei: fast fünf Stunden später, als Kit am Wochenende wegbleiben darf. Er kommt nie vor zehn Uhr nach Hause, aber viel später als elf wird es meistens auch nicht. Welche Kneipen hier haben um diese Zeit überhaupt noch offen? In Nachtclubs wird ein Ausweis verlangt – ich weiß, dass er einen gefälschten hat, aber selbst der größte Dummkopf würde ihn nicht für einen Achtzehnjährigen halten. Noch nie war er so spät irgendwo unterwegs.
Angst schleicht sich in meine Gedanken, windet sich um sich selbst, presst sich gegen die Innenwände meines Schädels. Das ist kein pubertärer Trotz mehr. Es ist etwas passiert. Kit ist in Not, und niemand kommt ihm zu Hilfe. Mir wird abwechselnd heiß und kalt, Schweiß bricht mir überall aus. Ich muss nach ihm suchen, ich muss die Straßen absuchen, nach einer offenen Bar, einem Nachtclub Ausschau halten, was auch immer. Aber zuerst muss ich Maya aufwecken. Sie muss mich anrufen, falls Kit in der Zwischenzeit nach Hause kommt. Ich sehe ihr müdes Gesicht vor mir, und sie aus dem Schlaf zu reißen, gefällt mir nicht, doch ich habe keine andere Wahl.
Mein Klopfen ist viel zu zaghaft – ich will die Kleinen nichtaufwecken. Aber wenn Kit wirklich verletzt ist oder in großen Schwierigkeiten steckt, darf ich keine Zeit mehr verlieren. Ich drücke die Klinke runter und schiebe die Tür auf. Das Licht der Straßenlampe fällt durch den Vorhangspalt auf Mayas Gesicht, auf ihre langen Haare. Sie hat im Schlaf die Decke weggeschoben, einen Moment blicke ich sie an.
Ich beuge mich hinab und schüttle sie sanft. »Maya?«
»Hmm …« Sie rollt auf die andere Seite.
Ich versuche es noch einmal. »Maya, wach auf. Ich bin’s.«
»Ja?« Sie dreht sich wieder zurück, stützt sich auf ihren Ellenbogen, schaut mich schläfrig und blinzelnd unter ihrem Vorhang aus Haaren hervor an.
»Maya, ich brauche deine Hilfe.« Ich sage das lauter, als ich eigentlich will, das muss die aufsteigende Panik sein.
»Was ist?« Sie ist plötzlich hellwach, setzt sich auf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Sie knipst ihre Nachttischlampe an und fragt mich blinzelnd: »Was ist los?«
»Kit – er ist immer noch nicht hier, und es ist jetzt fast drei. Ich – ich muss los und nach ihm suchen. Es muss ihm etwas passiert sein.«
Sie schließt die Augen eine Sekunde lang und öffnet sie dann wieder, als versuche sie, richtig zu sich zu kommen. »Kit ist immer noch nicht da?«
»Nein!«
»Hast du versucht, ihn anzurufen?«
Ich erzähle ihr von meinen vergeblichen Versuchen, mit Kit und Mum zu telefonieren. Maya steht auf und folgt mir die Treppe hinunter, wo ich im Flur nach den Schlüsseln suche. »Aber hast du denn eine Ahnung, wo er sein könnte, Lochie?«
»Nein, ich werde einfach durch die Straßen gehen …« Ich wühle mich durch meine Jackentaschen, dann durch den Stapel mit Werbebroschüren und ungeöffneten Rechnungen auf der Ablage im Flur, alles fällt auf den Boden. Meine Hände haben angefangen zu zittern. »Scheiße, wo hab ich nur die Schlüssel hin?«
»Lochie, du wirst ihn nie finden. Er könnte überall in London
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