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Formbar. Begabt

Formbar. Begabt

Titel: Formbar. Begabt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juna Benett
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Wochen habe ich kaum Zeit am Klavier verbracht und würde am liebsten umdrehen, als ich vor der Haustür meiner Lehrerin stehe. Stattdessen reiße ich mich zusammen und betätige die Klingel.
    »Hannah, da bist du ja. Hast du diese Woche mehr Zeit ins Klavier investiert?«
    Ich grüße freundlich und murmle anschließend etwas von »Viel zu tun in der Schule.«, was meine Lehrerin mit einem tadelnden Blick quittiert. Resigniert seufzend nimmt sie neben mir am Flügel Platz.
    »Womit möchtest du anfangen? Tonleitern zum Aufwärmen?«
    Ich nicke und lege meine Hände auf die Tasten.
    »Beginne mit A-Dur.«
    Ich überlege kurz und stelle mir die Töne der A-Dur-Tonleiter vor. Dann sende ich einen kurzen Gedankenimpuls ans Klavier aus.
    Bewege die Tasten der A-Dur-Tonleiter über zwei Oktaven. Schnell!
    Meine Klavierlehrerin animiere ich mit einem knappen Befehl dazu, mit geschlossenen Augen meinem Spiel zuzuhören. Sie würde sonst mit Sicherheit bemerken, dass sich die Tasten bewegen, ohne von mir berührt zu werden. Ich fahre mit dem Abstand von ungefähr einem Zentimeter über die Klaviatur, während die Töne in Höchstgeschwindigkeit erklingen. Nachdem ich wieder auf dem Ausgangston angekommen bin, nehme ich die Hände von den Tasten. Neben mir bleibt es still. Ein kurzer Seitenblick zeigt, dass mich meine Klavierlehrerin mit offenem Mund anstarrt.
    »Hannah? Das war großartig.«
    Ich setze ein fröhliches Grinsen auf. Hoffentlich habe ich es nicht übertrieben. Bei den folgenden Tonleitern achte ich darauf, kein allzu hohes Tempo zu wählen, um meine Lehrerin nicht unnötig zu verstören. Bis auf H-Dur gelingen mir alle bisher besprochenen Übungen fehlerfrei. Bei dieser Tonleiter bin ich mir nie ganz sicher, welche Tasten zu drücken sind. Blöde Vorzeichen. Meine Klavierlehrerin weiß nicht, wie ihr geschieht.
    »Du musst in der vergangenen Woche geübt haben wie eine Verrückte. Ich bin sehr beeindruckt.«
    Auch bei den darauffolgenden Fingerübungen hilft die Gedankenkraft. Solange ich die zu spielenden Noten im Kopf habe und die Gabe die Tasten drückt, während meine Hände darüber schweben, ist mir nichts zu schwer.
    Kurze Zeit später gerate ich jedoch an meine Grenzen. Die komplizierte Etüde, deren erster Teil von mir im Laufe der letzten Woche hätte vorbereitet werden sollen, besteht aus einer solchen Vielzahl an Noten, dass ich diese unmöglich spontan erfassen kann. Dementsprechend bescheiden ist das Ergebnis, als ich versuche, das Stück zu musizieren. Meine Klavierlehrerin ist allerdings noch so begeistert von den Tonleitern und Fingerübungen, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, mich zu rügen. Stattdessen lobt sie meinen Fleiß bezüglich der Fingerfertigkeit.
    Auf dem Nachhauseweg ziehe ich kurz in Erwägung, Konzertpianistin zu werden, verwerfe die Idee aber schnell wieder. Ich müsste zwar kein Klavier üben, aber dafür unaufhörlich die Noten studieren und auswendig lernen. Zudem müsste ich immer verhindern, dass jemand einen Blick auf meine Hände beim Spiel wirft. Nein danke.
    Beim Abendessen bitte ich meine Mutter um Erlaubnis, die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag bei Jan zu verbringen. Nachdem ich die genaue Adresse genannt und versichert habe, in jedem Fall verantwortungsbewusst zu handeln, gibt sie mir ihre Zustimmung. Jan hat bei seinem Besuch einen derartig guten Eindruck hinterlassen, dass er in den Augen meiner Mutter den perfekten Freund darstellt. Glücklicherweise habe ich bereits Aufklärungsgespräche jeglicher Art durchlaufen, sodass sie die Übernachtung nicht als große Gefahr einstuft. Zumindest ist eine von uns beiden der Meinung, dass ich weiß, was ich tue.

***
    Voller Vertrauen erklärte sich meine Gefährtin bereit, den entsprechenden Versuch mit mir durchzuführen. Scheinbar war sie sich des Risikos nicht bewusst, denn sie starb am gleichen Abend an Erschöpfung.
    Ich nehme an, dass sie schon zuvor körperlich geschwächt war.
    Außerdem war ihre Kraft so spärlich, dass ich zu meiner Enttäuschung keine körperliche Veränderung an mir feststellen konnte.

26
    Gescheitert
    Am Mittwochabend klingelt Viv um Punkt 19 Uhr an unserer Haustür. Im Verlauf der letzten beiden Tage bin ich zu einer endgültigen Entscheidung gelangt. Ich werde meine beste Freundin von der Bürde befreien, die ich ihr auferlegt habe. Es reicht aus, wenn Jan mit dem Wissen um meine Gabe zurechtkommen muss. Schon ihm fällt dies zeitweise sehr schwer – genau wie mir. Völlig

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