Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frag die Karten

Frag die Karten

Titel: Frag die Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
er
nach Hause kommt. Ich habe mich für ihn schön gemacht. Ich habe seinen
Lieblingswhisky besorgt. Er muß einfach kommen. Und er wird kommen — Sie werden
es schon sehen.«
    Ihr Atem ging stoßweise, und ihre
tränenfeuchten Augen richteten sich verzweifelt von der einen Seite des Raums
zur anderen. Ich empfand das erschreckende Gefühl, daß etwas in ihrem Inneren
zerbrochen sein mußte. Dann, auf einmal, wirbelte sie herum und schaute mich
an, das Gesicht von wahnwitziger Hoffnung erhellt.
    »Hören Sie, ich kann es beweisen«,
erklärte sie. »Ich kann beweisen, daß er kein Mörder ist. Ich werde Ihnen etwas
zeigen. Gehen Sie, schauen Sie es sich an.« Sie streckte eine zitternde Hand aus
und richtete sie auf den Bogengang im vorderen Teil des Raums.
    Ich ging in die Richtung, stand vor
einer geschlossenen Tür.
    »Machen Sie die Tür auf!« befahl Anya
hinter mir.
    Die Tür führte in ein ganz gewöhnliches
Badezimmer. »Ich verstehe nicht, was — «
    Während ich mich umdrehte, kam Anya
rasch auf mich zu. Sie schubste mich hinein ins Bad, und ich schlug mit der
Hüfte gegen das Waschbecken. Die Tür schloß sich hinter mir. Ich warf mich
dagegen, dann wich ich zurück. Anya hatte die Krähe durch den Spalt geworfen.
    In tiefem Entsetzen zog ich mich ans
andere Ende des kleinen Badezimmers zurück. Die Krähe flatterte wild umher und
suchte nach einem Platz, wo sie sich niederlassen konnte. Schließlich landete
sie, nachdem sie mich mehrmals mit den Flügeln gestreift hatte, auf der Stange
des Duschvorhangs. Dort blieb sie hocken und krähte voll Verzweiflung.
    Ich lehnte mich gegen die Wand und
atmete schwer.
    Dann sagte ich laut zu mir: »Sharon,
das ist wirklich eine alberne Angst. Beruhige dich. Und erschreck den Vogel
nicht, sonst fängt er wieder zu flattern an.«
    Die Krähe hockte zwischen mir und der
Tür. Ich schaute mich nach einem anderen Ausweg um. Auf meiner linken Seite
befand sich ein Fenster, aber es war fest verriegelt. Selbst wenn ich es öffnen
könnte... Die Wohnung lag im zweiten Stock des Flauses.
    Dennoch...
    Ich wandte meinen Blick nicht von dem
Vogel ab und kramte in meiner Handtasche nach etwas, das ich zum Offnen des
Fensters benützen konnte. Alles, was ich fand, war ein Korkenzieher. Ich mußte
es versuchen. Ich drückte mich ans Fenster und begann die Nägel zu lockern.
    Die Krähe begann wieder zu flattern;
ihre Flügel klatschten wild. Ich ließ beinahe den Korkenzieher fallen. Der
Vogel landete auf dem Medizinschränkchen und krähte noch lauter.
    Ich beobachtete ihn eine volle Minute
lang und bemerkte, daß draußen auf dem Gang Stimmen lautgeworden waren. Anya
hatte sich Verstärkung besorgt. Meine Handflächen waren feucht, als ich mich
wieder dem Fenster zuwandte. Die Nägel gaben allmählich nach.
    Nach einer fieberhaften Arbeit, die mir
wie eine kleine Ewigkeit vorkam, hatte ich die Nägel aus dem Holz gezogen. Ich
stieß das Fenster auf und duckte mich, wobei ich den Kopf mit den Armen
schützte.
    »Komm schon, Hugo, schöner Hugo«,
lockte ich. »Siehst du das offene Fenster? Da draußen ist die große, freie
Welt!«
    Der Vogel hörte auf zu krähen. Ich
wagte es, einen Blick nach oben zu werfen. Er neigte neugierig den Kopf.
Sekunden später flog er herüber und blieb auf dem Fensterbrett sitzen. Ich
kroch geduckt auf die Tür zu. .
    Der Kopf des Vogels bewegte sich nach
der einen und der anderen Seite. Dann breitete Hugo die Flügel aus — und war
verschwunden.
    Ich stand auf und schaute mich nach
einer Waffe um. Der Handtuchhalter war aus Leichtmetall und wurde von einer
Feder festgehalten. Ich zog ihn heraus und hob ihn an, um sein Gewicht
abzuschätzen. Er war kaum schwer genug, um Fliegen damit zu erschlagen, aber er
mußte reichen, genau wie vorhin der Korkenzieher.
    Vorsichtig drehte ich den Türknopf und
öffnete die Tür einen Spalt. Alles war ruhig. Ich machte die Tür weiter auf.
Keine Stimmen. Mit erhobenem Handtuchhalter trat ich hinaus in die kleine Diele
und näherte mich dem Bogengang.
    Anya lag zusammengekrümmt auf dem Boden
im Wohnzimmer, wie eine Stoffpuppe, die ein Kind achtlos weggeworfen hat.
    Ich verlor vor Schreck beinahe das
Gleichgewicht und ließ den Handtuchhalter los, dann lehnte ich mich an die Wand
des Bogenganges und starrte auf die verkrümmt am Boden liegende Gestalt.
    »Das ist zu viel«, sagte ich laut zu
mir. »Zwei Frauen getötet, in zwei Tagen! Das ist zu viel.«
    Aber vielleicht war Anya gar nicht tot!
Geh hin und sieh

Weitere Kostenlose Bücher