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Frag die Karten

Frag die Karten

Titel: Frag die Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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und die meisten Bewohner verlassen das
Heim spätestens nach einem Jahr.«
    »Ich kam etwas später als Mr. Clemente.
Und der Grund, warum ich dort bleibe, ist ganz einfach — ich weiß nicht, wo ich
sonst bleiben soll. Die meisten anderen haben Familie oder finanzielle
Unterstützung, aber ich bin ganz allein auf der Welt.«
    »Sie haben kein Geld? Ihre frühere
Firma muß Ihnen doch eine Rente zugesprochen haben.«
    »Das stimmt.« Er nippte an seinem
Brandy und leckte sich danach anerkennend die Lippen. »Eine einmalige
Auszahlung von sechzigtausend Dollar. Ein schönes Ei fürs Nest, aber einen Teil
davon habe ich ausgegeben, und den Rest habe ich unglücklich investiert und
verloren. Ich hatte noch nie Glück mit dem Geld.«
    »Was war das für eine Investition?«
    »Ach, irgendsoeine Sache, mit der man
angeblich schnell reich werden kann. Ich möchte nicht darüber sprechen. Es
deprimiert mich nur.«
    Er hatte wahrscheinlich das Geld in
Grundbesitz in Arizona oder für abenteuerliche Aktien angelegt. Ich trank
meinen Brandy aus. Es war an der Zeit, daß ich meine Suche fortsetzte — nach
dem, was Molly verstecken wollte.
    »Danke für den Brandy, Sebastian«,
sagte ich. »Aber jetzt muß ich gehen.«
    »Schon?«
    »Die Pflicht ruft.«
    »Arbeiten Sie auch nachts?«
    »Manchmal.«
    »Sie sind eine ehrgeizige junge Dame.«
    Aber es war nicht der Ehrgeiz, der mich
jetzt trieb. Es war die Neugier, gepaart mit dem starken Bedürfnis, dafür zu
sorgen, daß der Mord an Molly gerächt würde.
     
     
     

Kapitel
15
     
    Madame Anya öffnete gleich, nachdem ich
geklingelt hatte, und ihr ungeduldiges, gerötetes Gesicht stand in seltsamem
Kontrast zu dem Revolver, den sie in der Hand hatte. Als sie mich sah, trat sie
enttäuscht einen Schritt zurück. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich
gefaßt und ein höfliches, geschäftsmäßiges Lächeln aufgesetzt hatte.
    »Gut. Sie kommen wegen der Kerzen.«
    »Nein. Ich muß mit Ihnen über Molly
sprechen.«
    »Jetzt? So spät?«
    Ich schaute auf meine Armbanduhr. »Es
ist noch nicht neun.«
    »Wirklich? Mir kommt es vor, als ob es
schon viel später wäre.«
    Das ist immer so, wenn man so voll
Ungeduld auf jemanden wartete wie Anya auf ihren Jeffrey, dachte ich. »Bitte — es
ist sehr
    wichtig.«
    Sie seufzte tief. »Na schön, aber
lassen Sie mich erst Hugo in den Käfig bringen.« Sie drehte sich um, steckte
den Revolver wieder in die Tischschublade wie am Abend zuvor und schloß kurz
die Tür, bevor sie mich dann einließ.
    Das Zimmer war seit meinem letzten
Besuch unverändert. Die Wachsvögel nahmen noch immer dieselben Haltungen ein:
singend, die kleinen Köpfchen verdreht, auf ihren Wachsnestern hockend. Aber
Anya sah verändert aus gegenüber dem letzten Mal: Sie trug ein langes, schwarzes
Kleid und einen Seidenschal mit roten und goldenen Mohnblumen bestickt und
wirkte in der Tat so dramatisch, wie man es von einer Wahrsagerin erwartete.
Das Haar hatte sie mit einem verzierten Silberkamm hochgesteckt, und ihre
Lippen glänzten scharlachrot. Ich nahm an, daß sie sich für die Rückkehr von
Jeffrey so herausgeputzt hatte, und fragte mich, ob er tatsächlich zu ihr
zurückkehren würde.
    Anya deutete auf einen Sessel und lud
mich ein, Platz zu nehmen, dann fragte sie mit leicht ungeduldigem Unterton in
der Stimme: »Nun, was gibt’s, meine Liebe?«
    »Anya, Sie und Molly waren doch gut
befreundet, oder?«
    »Wir waren die besten Freundinnen.«
    »Dann hat sie sich Ihnen auch in vielen
Dingen anvertraut?«
    »Sicher. Sie kam jede Woche zu mir um
spirituelle Ratschläge zu erhalten. Und sie hat dabei nichts verschwiegen.«
    »Wenn Sie so gute Freundinnen waren,
dann wünschen Sie vermutlich, daß Mollys Mörder gefaßt wird, nicht wahr?«
    Sie zog die Stirn in Falten.
»Natürlich. Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
    »Es geht um folgendes: An dem Tag, als
Molly ermordet wurde, kam sie zu ihrer wöchentlichen Konsultation zu Ihnen. Ich
bin sicher, sie hat Ihnen über das berichtet, was ihr Sorgen machte. Und das,
was sie Ihnen anvertraut hat, könnte mir die Spur weisen zu ihrem Mörder.«
    Anya zog sich den Schal fester um die
Schultern. »Sie bitten mich also, meine berufliche Schweigepflicht zu brechen,
meine Liebe. Das kann ich nicht, und ich habe es Ihnen, glaube ich, schon
gestern abend klargemacht. Das wäre so, als ob Sie einen Arzt bitten würden,
Ihnen das Karteiblatt eines Patienten zu überlassen. Oder einen Rechtsanwalt
fragen, was ihm sein

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