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Frag die Karten

Frag die Karten

Titel: Frag die Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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hatte nicht einmal ihr Mann Lust darauf.« Er kicherte.
    Ärgerlich erwiderte ich: »Nun ja, ihre
Angst hat sich zuletzt doch als berechtigt erwiesen. Immerhin ist sie von einem
ihrer Besucher getötet worden.«
    Er wurde augenblicklich wieder ernst.
»Sie haben recht. Jemand hat sie umgebracht. Und das ist schlimmer als
Vergewaltigung, nicht wahr?«
    »Das kann man wohl sagen. Was hielten
Sie davon, daß Anya einen Revolver besaß?«
    »Ich habe sie gehänselt. Nannte sie ›Anya
get your Gun‹. Das hat sie gar nicht gern gehört.«
    Ich starrte ihn an. Er hatte ein Motiv
und die Gelegenheit gehabt. Aber besaß er auch genügend Schlauheit? Wäre er in
der Lage gewesen, mir so geschickt Lügen aufzutischen, zum Beispiel, was das
Stück Vorhangschnur betraf? »Warten Sie hier, Gus.« Ich drängte mich an die
Theke und machte Stanley auf mich aufmerksam. »Können Sie mir sagen, ob meine
Freundin Linnea die Flasche Wein abgeholt hat?«
    Stanley zapfte gerade einen Krug Bier.
»Ja, hat sie. Aber das ist schon ‘ne ganze Weile her. War sie nicht hinten?«
    »Wo — hinten?«
    »Bei den Dominospielern. Sie ist gleich
nach Sebastian und Gus reingekommen. Gus hat sie eingeladen, beim Spiel
zuzusehen.«
    »Aber sie war nicht da, als ich nach
hinten kam.«
    Gus trat neben mich und zupfte mich am
Ärmel. »Sie ist nur kurz geblieben«, sagte er. »Dann entschloß sie sich,
Sebastian ins Blindenzentrum zu führen. Ich dachte, es würde ihm Spaß machen,
hierherzukommen, aber das war anscheinend nicht der Fall.«
    »Ich habe aber doch gehört, daß
Sebastian jetzt bei Ihnen wohnt?«
    »Er zieht morgen um. Wir brauchen dazu
Neverman und den Wagen.«
    »Hat meine Freundin gesagt, warum sie
zum Blindenzentrum geht?«
    »Sie hat gefragt, ob Mr. Clemente schon
aus Los Angeles zurück sei, und Sebastian sagte ja. Also wollte sie Sebastian
hinbringen und danach mit Mr. Clemente zu Ihrer Wohnung fahren, um das Gepäck
abzuholen. Mr. Clemente hatte ihr versprochen, sie zum Flughafen zu fahren.
Wohin fliegt sie denn?«
    Seine Worte klangen noch hinter mir
her, als ich in größter Eile die Kneipe verließ. Verdammte Linnea! Gerade als
ich dachte, man könnte sich wieder auf sie verlassen...
    Ich überquerte die Fahrbahn bis zur
Verkehrsinsel in der Mitte der Straße und wartete darauf, daß die Gegenspur
frei wurde. Als ich über die Straße rannte und dann auf dem Gehsteig dahinhastete,
trommelten meine Füße einen Refrain:
    Nicht meine Freundin Linnea! Er darf
Linnea nicht töten!
    Die Gehsteige der 24. Straße waren
menschenleer; der Nebel und die Feuchtigkeit nach dem Regen hatten die Menschen
in die Häuser getrieben. Ich sah sie hinter den Fenstern der Bars und Cafés
sitzen, warm und sicher und ohne Furcht.
    Während ich dahinlief, formten sich
Stoßgebete in meinen Gedanken: Laß nicht zu, daß ihr etwas passiert! Bitte, laß
es nicht zu.
    Das schmiedeeiserne Tor zum
Blindenzentrum stand offen. Ich hielt inne.
    Ruhig, Sharon. Bleib so ruhig wie
möglich.
    Ich ging den Plattenweg entlang. Alles,
was ich hörte, waren die Geräusche des Verkehrs auf der Straße. In der
Hoffnung, daß sie meine leisen Schritte übertönten, näherte ich mich der Seitentür
zur Kirche.
    Am Ende der Treppe in den Keller
knirschte zerbrochenes Glas unter meinen Schuhen, und ich nahm den Geruch von
Riesling wahr.
    Kein Zweifel, ich war richtig hier.
    Während ich mich durch den Korridor
schlich, nahm ich die Pistole aus der Handtasche. In Nevermans Quartier
schimmerte gespenstisches Licht: eine weiße Fläche oben an der Decke. Das Licht
stammte von Nevermans Taschenlampe, die samt den Büchern und dem Aschenbecher
von der Kiste gefallen war.
    Hatte Linnea die Taschenlampe
angeknipst, mit Sebastian gekämpft und war dann entkommen? Ich schlich mich
durch den Korridor zu der Treppe, die in die Vorhalle der Kirche führte, wo
ebenfalls Licht brannte, und lauschte. Oben herrschte Totenstille. (
    Vielleicht waren sie trotzdem dort, und
Linnea verbarg sich in der Dunkelheit? Oder sie war geflohen...
    Ein dumpfes Dröhnen. Dann ein zweites.
Und das Geräusch, als ob etwas über den Boden geschleift würde.
    Dann — Stille.
    Jedes noch so leise Geräusch, das ich
verursachte, würde ihn warnen. Ich schlich wieder durch den Korridor und über
die Treppe zur Seitentür. Ich fühlte mich der Situation allein nicht gewachsen.
    Ich steckte meine Pistole ein, rannte
hinaus auf die Straße und hinüber zu einem der Cafés, wo unbekümmerte Leute
saßen und den

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