Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
zum Nachmittag saß ich auf einer Stufe im Hof und wartete. Jedes Mal wenn ich aufstehen wollte, tauchte irgendwer auf und erklärte mir, dass gleich irgendwer anderer erscheinen würde. Ich hätte beinahe gelächelt, so typisch orientalisch kam mir das vor. Oder auch militärisch: Zack, zack, antreten zum Warten.
Bis der vierte, fünfte und schließlich sechste Stern am Firmament erschien, war ich halb verhungert, doch man hatte mir eingebläut, mich nicht vom Fleck zu rühren.
Dann kam ganz unerwartet eine winzige Frau mit ausgebleichten roten Haaren auf mich zugeschossen. »Du!« Sie zielte mit ihrem Finger auf mich. »Was sitzt du hier herum?« Ich wollte schon zu einer Erklärung ansetzen, doch sie riss mich hoch und schubste mich aus dem Hof. »Du gehst hier zur Hand«, sagte sie.
Wir waren in einer Küche, die abseits des Haupthauses errichtet worden war, damit die übrigen Bewohner von der Hitze und den Gerüchen verschont blieben. Sowie ich über die Schwelle getreten war, wurde mir ein Weinkrug in die Hand gedrückt und befohlen, aufs Hauptdach zu steigen, um dort nachzuschenken.
Es war kein zierlicher Krug. Er war etwa achtzig Zentimeter hoch und hatte eine zehn Zentimeter breite Öffnung sowie zwei Griffe. Mein allzeit bereites Lexikon zeigte mir das Bild einer Kanne, eines Behälters mit einem Fassungsvermögen von etwa einem Liter. Dann schrieb es das >=<-Zeichen neben das Wort Krug. Offenbar war hier und jetzt ein Krug mit einer Kanne gleichzusetzen. Wie auch immer, das Ding fasste einen ganzen Weinsee. Ich folgte einigen anderen Sklaven und wuchtete meinen Krug nach oben.
Wieder entsprach die Bauweise jener des modernen Nahen Ostens. Das Flachdach wurde zur Unterhaltung genutzt. Auf allen vier Seiten des Daches waren Unterstände errichtet worden, die Schutz vor dem kühlen Nachtwind boten. An der Küste war der Frühling bereits eingezogen, hier noch nicht.
Ich füllte alle Tonbecher nach - etwa fünfzig - und tappte dann wieder nach unten, um einen weiteren Weinkrug zu holen. Noch mehr Gäste waren eingetroffen, Männer und Frauen, die Schwerter trugen, allerdings in der Scheide, sodass sie eher wie Insignien wirkten als wie Waffen.
Die Rothaarige, die sich als Shana, Schwester des Königs, vorgestellt hatte, warf einen finsteren Blick auf meine Kleider und befahl mir, ihr zu folgen. »Hier.« Damit warf sie mir ein Stoffbündel in die Arme. »Zieh das an.«
Kaum war sie weg, rollte ich das Bündel auf. Es war ein gerade geschnittenes Etuikleid in Erntegold mit einer Schärpe in Rot, Gold und Braun. Ich schlüpfte aus meinem zerfetzten Ensemble und zog mich um. Das Kleid war ärmellos mit asymmetrisch geschnittener Schulter, doch es war einigermaßen lang. Geschwind flocht ich mein Haar, das RaEm sehr lang hatte wachsen lassen, und setzte dann den goldenen Stirnreif wieder auf. Auf diese Weise fielen mir die Haare nicht ins Gesicht.
Ich eilte zurück in die Küche, schnappte meinen Weinkrug und hastete wieder hoch aufs Dach.
Zu den Giborim, wörtlich »die Mächtigen«, wie die Israeliten ihre Krieger nannten, zählten sowohl Männer als auch Frauen. Sie lagerten um den langen, niedrigen Tisch herum. Bestickte Tücher in Rot, Schwarz, Blau und Safrangelb lagen unter den Tonwaren, die pelestischer Sitte gemäß schwarz und rot glasiert waren. Schüsseln mit Getreide, mit Gewürzen und Kräutern garniert, dienten als Dekoration. Auf Bronzeplatten dampfte Fleisch, und entlang der Mitte des Tisches war eine hefige Wand aus Brotlaiben aufgeschichtet.
Zum ersten Mal auf meinen Reisen durch das Altertum wurde ich nicht eingeladen, mich zu setzen. Ich war ein Niemand -oder noch weniger. Ich war unsichtbar.
Die Musik setzte ein: Kanaatische Mädchen bliesen auf ägyptischen Doppelrohrflöten, spielten Tamburin und schlugen die Trommeln. Ein Blinder saß ein wenig erhöht und spielte zu ihren Improvisationen den Kinor - mein Lexikon hielt das Bild einer Harfe und ein weiteres >=<-Zeichen hoch. Die Musik bildete einen gefälligen, festlichen Hintergrund.
Frauen kamen die Treppe heraufgeschwebt; sie hatten das Haar zu Zöpfen geflochten und ihre Leiber in gleichermaßen freizügige wie bunt gemusterte Tücher gehüllt. Wer war das?
Auf ihren Kissen lagernd oder gegeneinander gelehnt, scherzten die Giborim und forderten sich gegenseitig zum Wetttrinken heraus.
Ich konnte noch immer kaum glauben, dass ich jedes Wort verstand.
Meine Aufgabe an diesem Abend war simpel: Ich musste dafür sorgen, dass
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