Franny Parker
glauben, dass es Lucas war.«
»Bestohlen?«
»Dreitausend Dollar fehlen. Sie sind gestern spät am Abend zu uns gekommen und haben gesagt, dass Lucas nicht zur Arbeit aufgetaucht ist. Und irgendwann im Lauf des Abends ist der Laden bestohlen worden.« Lindy verstummte und wischte sich heftig die Tränen weg. »Ich hab gedacht, Lucas würde einfach ein bisschen Zeit brauchen, um sich zu beruhigen. Aber als er gestern Abend nicht nach Hause gekommen ist, hab ich gewusst, dass irgendwas nicht stimmt. Und jetzt das. Bitte, wir müssen ihn finden.«
Lindy bat um Hilfe, das hielt ich kaum aus. Ich wünschte verzweifelt, dass Mama ihr jeden Gefallen tun würde, egal was.
Mama schien sich plötzlich an uns zu erinnern und drehte sich um. »Franny, Sidda, nehmt Ben mit raus«, befahl sie.
Wir drei setzten uns bei der Veranda ins Gras und spitzten die Ohren. Ich rupfte die trockenen Halme aus, während wir etwas zu hören versuchten, und neben mir bildeten sich kleine gelbe Heuhaufen. Ich dachte an das Rehkitz Flag, das zwischen der Wildnis und der Familie hin- und hergerissen war und weder zur einen noch zur anderen gehörte. Lucas hatte recht gehabt. Er wusste Bescheid, nicht weil er das Buch ebenfalls gelesen hatte, sondern weil er auch hin- und hergerissen war.
»Glaubst du, dass er das Geld gestohlen hat?«, fragte Sidda.
Ich blickte auf die Blumenkette, die sie machte, gelbe und lila Blüten, die sie geschickt miteinander verknüpfte. Wenn sie mich das vor einer Woche gefragt hätte, hätte ich sie verhauen. Jetzt war ich mir nicht so sicher. Wenn ja, dann aus gutem Grund. War er dann trotzdem ein Dieb? »Er braucht Hilfe«, sagte ich zu ihr.
Sidda nickte und reichte mir eine gelbe Butterblume. Plötzlich drängte es mich, ihr alles zu erzählen: das von Lucas’ Arm, von der Lüge über seinen Vater und von dem Versprechen, das er mir abgenommen hatte. Dads Wagen kam in die Einfahrt gefahren und Ben sprang auf und rannte daneben her. »Lucas ist weggerannt! Harlands Supermarkt ist überfallen worden!«, brüllte er. Für Ben war das alles nur aufregend, wie ein Gangsterfilm. Er war noch zu klein, um zu verstehen. Ich unterdrückte die Tränen und starrte zu Boden, während Dad ins Haus eilte. Ich hatte fast den ganzen Rasen ausgerissen, als sie uns endlich hineinriefen.
»Wir gehen nach Lucas suchen«, sagte Mama zu uns.
»Wo?«, fragte ich. Ich war entschlossen mitzugehen.
»In den Hügeln«, antwortete Daddy. »Wir suchen die Wanderwege ab und sehen uns ein bisschen um.«
»Ich glaube, dass er in der Nähe ist«, fügte Lindy hinzu. »Er würde mich nicht allein lassen.«
Ich begriff plötzlich, dass sie recht hatte. Lucas würde sie nie allein lassen – und mich auch nicht, hätte ich fast noch hinzugesetzt. Vielleicht hatte er Angst gehabt, vielleicht hatte er auch was Schlimmes gemacht, aber er würde nicht einfach so abhauen. Ich wusste, dass er etwas plante.
»Ich will, dass ihr Kinder hierbleibt. Haltet die Augen offen«, sagte Mama. »Sidda, du machst deinen Geschwistern was zu essen.«
Ich rannte zum Dielenschrank und schnappte mir Jax’ Leine und drei Taschenlampen. Es dämmerte schon.
»Was hast du denn vor?«, fragte Dad.
»Ich komme mit«, sagte ich und pfiff nach Jax.
»Diesmal nicht, Wichtel.«
»Aber …«
»Nichts aber«, sagte Mama und nahm Jax an die Leine, der aufgeregt an uns hochsprang. »Ich möchte euch alle an einem sicheren Ort wissen. Kannst du mir diesen Gefallen tun?«
Natürlich konnte ich das. Ich konnte im Haus bleiben. Was ich aber nicht mehr konnte, war, den Mund zu halten. Lucas war fort mit seinen blauen Flecken auf dem Arm und vielleicht mit noch Schlimmerem. Wenn ich ihnen nur was gesagt hätte. Ich hatte das Gefühl, dass das irgendwie meine Schuld war.
»Aber ich muss euch beiden was erzählen«, sagte ich. »Über Lucas, er …«
Lindy unterbrach mich. »Seid ihr so weit?«, sagte sie und kam herbei.
Ich sah ihre verstörte Miene, ihren roten Fleck. Lucas’ Geheimnis platzte mir fast aus dem Mund, aber meine Zunge war wie gelähmt, ich brachte die Worte nicht heraus, ich wusste nicht, wie.
»Es kommt alles wieder in Ordnung«, sagte Mama bestimmt. »Wir finden ihn.«
Ich weiß nicht, ob das an mich gerichtet war oder an Lindy oder ob sie sich selbst Mut machen wollte, auf jeden Fall nickten wir alle einträchtig. Dann waren sie weg.
Die Suche
N ach belegten Broten und kalter Suppe ließen wir uns im Wohnzimmer aufs Sofa fallen. Wir wussten alle
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