Franny Parker
tauchte in dem erleuchteten Eingang auf und sah mich streng an. Genauso streng sah er Lucas’ Vater an, der langsam Schritt für Schritt zum Holzhaus zurückwich. »Wir suchen morgen noch mal, aber ich werde auch heute Nacht wachsam sein«, sagte er zu Carl Dunn.
Dad blieb bei mir in der Scheune, als ich das kleineOpossum wieder in sein Nest legte. Zusammen machten wir Visite bei allen Patienten. Vögel, Schildkröten, Mäuse. Alle waren da und verhielten sich ruhig. Aber es war mir trotzdem nicht recht, sie allein zu lassen.
»Dad, Lucas ist doch nichts passiert, oder?«, fragte ich und füllte ihre Wasserschälchen für die Nacht auf.
Dad stellte die Pumpe an und spülte die Schildkrötenschale sorgfältig aus, dann brachte er sie zu Speedy zurück. »Das hoffe ich, Wichtel, das hoffe ich sehr.«
»Was wird jetzt?«, fragte ich und folgte ihm in die Box.
»Ich weiß nicht«, sagte Dad. Er setzte sich auf eine alte Bank bei den Käfigen und winkte mir, mich neben ihn zu setzen. »Lucas und Lindy sind gute Leute, Franny. Aber sie sind in einer schlimmen Lage.«
Ich lehnte den Kopf an seinen Arm. »Wir müssen ihnen helfen«, flüsterte ich.
Daddy nickte. »Das versuchen wir, Schätzchen. Mit dem Helfen ist es so eine seltsame Sache. Manchmal wollen die, die es am nötigsten haben, keine Hilfe annehmen. Oder sie wissen nicht, wie sie das machen sollen.«
Das verstand ich nicht. »Was macht man da?«, fragte ich.
»Man versucht es immer wieder«, sagte Dad und strich mir über den Kopf. »Man versucht es einfach weiter.«
In dieser Nacht saß ich lange im Bett und beobachtete die Scheune durch mein Fenster und dachte an die Patienten darin und an Lucas, der irgendwo draußen war. Nichts war so geworden, wie es hätte werden sollen. Nicht mal im
Frühling des Lebens
, einer Geschichte, von der ich nicht mehr sicher war, ob sie mir noch gefiel. Ich las Seite um Seite und versuchte so inbrünstig, meine eigenen Sorgen zu vergessen, dass ich plötzlich ganz unerwartet bei der letzten Seite angekommen war. Ich lehnte mich in meine Kissen zurück. Meine Hände zitterten von dem Gelesenen. Flag und Jody verschwunden, wie Lucas.
Ich überlegte, ob es stimmte, was Jodys Vater zu seinem Sohn sagte: dass wir alle allein sind auf dieser Welt. Egal wie sehr wir uns wünschen, dass alles gut ist, das Böse ist trotzdem da. Und dass uns nichts anderes übrig bleibt, als weiterzumachen.
Ich stellte mir vor, wie Jody in sein Boot stieg, das ihn von seinem Heim und seiner Familie forttrug. War es das, was Lucas jetzt machte? Ich wünschte mir, ihn mit all unseren Waisenkindern in der Scheune verstecken zu können. Es dauerte lange, ehe ich schließlich doch einschlief, Lucas vor Augen, der sich in der Scheune sicher ins Heu kuschelte und laut schnarchte, während die kleinen Opossums um ihn herum ihren nächtlichen Spaziergang machten.
Frei
M ama hatte recht; es war an der Zeit, die Schwalben fliegen zu lassen. Wir brauchten alle ein positives Erlebnis. Die erste Augustwoche war zu Ende und die drückende Julihitze verfolgte uns in einen weiteren Sommermonat. Am Ende der Woche hatte ich auf ein Zeichen gehofft, dass was Gutes kommen würde: eine Regenwolke, Lucas’ Rückkehr. Aber alles schien nur noch schlimmer zu werden.
Die Polizei kam morgens noch mal vorbei. Erst gingen sie in das Holzhaus, dann kamen sie zu uns. Es war Sonntag. Lucas war jetzt zwei Nächte nicht nach Hause gekommen und keiner hatte von ihm gehört. Inzwischen lief ein Haftbefehl gegen ihn.
Als Mama sich an den Küchentisch setzte, um mit Officer Price zu reden, pochte mein Herz heftig. Ich dachte an alles, was ich wusste, alles, was ich fühlte, aber dann stellte sich heraus, dass ich eigentlich gar nicht viel wusste. Ich wusste nicht, wo er war. Ich wusste nicht, ob er das Geld genommen hatte. Ich hatte ihn seit dem Nachmittag in der Einfahrt nicht mehr gesehen. Ich wusste auch nicht mehr als Mama oder die Bienen oder Lindy. Vielleicht sogar weniger.Mir fiel ein Stein vom Herzen, dass ich sein Vertrauen nicht verraten musste. Und dennoch, ich kam mir so hohl und nutzlos vor wie eine leere Getreidehülse auf dem Feld. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass ich Lucas Dunn vielleicht überhaupt nicht kannte.
Daher wandte ich mich den Tieren zu. In der dunklen Scheune beobachtete ich, wie die Schwalben im Heu herumflatterten. Sie waren inzwischen ausgewachsen. Während der Woche hatten sie Sturzflüge geübt und hatten im Flug Insekten gefangen, ganz
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