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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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erzählt, dann
hätte ich darauf mit einem La-la-la! reagiert. Jetzt musst du damit
zurechtkommen, dass ich wieder etwas fühle.»
    «Ich habe
gemeint, es tut mir leid, dass du was hast.»
    «Danke,
mein Süßer. Und ich entschuldige mich für meine Gefühle.»
    So
allgegenwärtig Depressionen offenbar neuerdings geworden waren, fand Joey es
doch ein wenig besorgniserregend, dass die beiden Frauen, die ihn am meisten
liebten, klinische Leiden hatten. War das nur Zufall? Oder hatte er tatsächlich
eine verderbliche Wirkung auf den Geisteszustand von Frauen? In Connies Fall, meinte er, verhielt es sich so, dass ihre Depression eine
Spielart derjenigen Intensität war, die er an ihr immer so geliebt hatte. An
seinem letzten Abend in St. Paul, vor seiner Rückkehr nach Virginia, saß er da
und beobachtete sie, wie sie ihren Schädel mit den Fingerspitzen betastete, als
hoffte sie, ein Übermaß von Gefühlen aus dem Gehirn herauszuziehen. Sie sagte,
in scheinbar willkürlichen Momenten habe sie deshalb geweint, weil ihr selbst
die nichtigsten schlechten Gedanken unerträglich seien und ihr nur schlechte
Gedanken und keine guten kämen. Sie habe etwa daran gedacht, dass sie die
UVA-Baseballkappe, die er ihr einmal geschenkt habe, nicht mehr habe finden
können; dass sie während seines zweiten Besuchs in Morton zu sehr mit ihrer
Zimmergenossin beschäftigt gewesen sei, um ihn fragen zu können, welche Note er
für sein großes Referat über amerikanische Geschichte bekommen habe; dass Carol einmal die Bemerkung fallengelassen habe, Jungs fänden sie bestimmt besser,
wenn sie mehr lächeln würde; dass eine ihrer kleinen Halbschwestern, Sabrina,
das erste Mal, als sie sie auf dem Arm gehabt habe, in Tränen ausgebrochen sei;
dass sie so dumm habe sein können, Joeys Mutter
gegenüber zuzugeben, sie werde nach New York fahren, um ihn zu besuchen; dass
sie ausgerechnet am letzten Abend vor seiner Abreise ans College so scheußlich
zu bluten angefangen habe; dass sie auf die Postkarten, die sie Jessica in dem
Bemühen, sich wieder mit ihr anzufreunden, geschickt habe, derart falsche Dinge
habe schreiben können, dass Jessica sie gar nicht erst beantwortet habe, und so
weiter und so fort. Sie irrte durch einen dunklen Wald aus Reue und Selbstekel,
in dem noch der kleinste Baum monströse Ausmaße annahm. In einem solchen Wald war
Joey nie gewesen, fühlte sich zu ihm in ihr aber unerklärlicherweise
hingezogen. Es machte ihn sogar an, dass sie losschluchzte, als er versuchte,
sie zum Abschied zu vögeln, jedenfalls so lange, bis das Schluchzen in
Sich-Winden, Um-sich-Schlagen und Selbsthass überging. Ihr Kummer schien
grenzwertig gefährlich, dem Selbstmord nicht unverwandt, sodass er sich dann
die halbe Nacht abmühte, ihr auszureden, sich deshalb schrecklich zu finden,
weil sie sich zu schrecklich fand, um ihm auch nur ein bisschen von dem zu
geben, was er wollte. Es war erschöpfend, ein Teufelskreis und unerträglich,
und dennoch überfiel ihn am folgenden Nachmittag, als er zurück gen Osten
flog, die Furcht vor dem, was Cipramil mit ihr anstellen mochte, sobald es
anschlug. Er dachte an die Bemerkung seiner Mutter, dass Antidepressiva die
Gefühle abtöteten: Eine Connie ohne Unmengen von Gefühlen war eine Connie, die
er nicht kannte und, so seine Vermutung, auch nicht haben wollte.
    Unterdessen
befand sich das Land im Krieg, doch es war ein merkwürdiger Krieg, in dem es
Verluste, im Rahmen von Rundungsfehlern, immer nur auf der Gegenseite gab. Zu
seiner Freude stellte Joey fest, dass die Eroberung des Irak in jeder Hinsicht
der Spaziergang war, den er erwartet hatte, und Kenny Barties schickte ihm begeisterte E-Mails, in denen er darauf drängte,
seine Brotfir ma eiligst
auf die Beine zu stellen. (Immerzu musste Joey erklären, dass er noch studiere
und mit der Arbeit erst nach dem Abschlussexamen beginnen könne.) Jonathan
hingegen war säuerlicher denn je. Beispielsweise war er geradezu fixiert auf die
irakischen archäologischen Kunstschätze, die Plünderer aus dem Nationalmuseum
gestohlen hatten.
    «Das war
nur ein kleiner Fehler», sagte Joey. «So was passiert nun mal, oder etwa nicht?
Du willst nur nicht zugeben, dass sonst alles glattläuft.»
    «Das gebe
ich erst dann zu, wenn sie das Plutonium und die Raketen mit den Pockenerregern
gefunden haben», sagte Jonathan. «Was nicht geschehen wird, weil alles
Schwachsinn war, erfundener Schwachsinn, ja weil die Leute, die das angezettelt
haben, unfähige Trottel

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