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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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als er beides zum ersten Mal berührt hatte. Nachts lag er bei
ihr und hielt sie fest, versuchte, sie zu erregen, mühte sich ab, die dicke
Affektkruste ihrer Verstörtheit zumindest so weit zu durchdringen, dass er es
in Ordnung fand, mit ihr zu schlafen. Die Pillen, die sie einnahm, hatten noch
nicht angeschlagen, und fast war er froh darüber, wie krank sie war; es verlieh
ihm Bedeutung, gab seinem Handeln Sinn. Immerzu wiederholte sie, sie habe ihn
im Stich gelassen, er aber empfand beinahe das Gegenteil. Als hätte sich eine
neue und erwachsenere Welt der Liebe aufgetan: als gäbe es für sie noch immer
endlos viele innere Türen, die sie öffnen müssten. Durch eines der Fenster in
ihrem Zimmer konnte er das Haus seiner Kindheit sehen, ein Haus, in dem nun
Schwarze wohnten, die, wie Carol sagte,
großkotzig seien und, mit ihren gerahmten Promotionsurkunden an einer Esszimmerwand,
für sich blieben. («Im Esszimmer», betonte Carol, «wo jeder sie sehen kann, sogar von der Straße aus.») Joey freute
sich, wie wenig der Anblick seines alten Zuhauses ihn berührte. So lange er
sich zurückerinnern konnte, hatte er ihm entwachsen wollen, und nun schien es,
als wäre es tatsächlich so gekommen. Eines Abends ging er sogar so weit, seine
Mutter anzurufen und ihr zu gestehen, was los war.
    «Aha»,
sagte sie. «Sieh an. Anscheinend bin ich hier nicht ganz auf dem Laufenden. Du
sagst, Connie war auf einem College im Osten?»
    «Ja. Aber
sie hatte eine unangenehme Zimmergenossin und wurde depressiv.»
    «Na, ist
ja schön, dass du mir das jetzt sagst, wo alles wohlbehalten in der
Vergangenheit liegt.»
    «Du hast
es mir nicht gerade leichtgemacht, dir zu erzählen, was in ihr vorgeht.»
    «Nein,
natürlich, ich bin hier die Böse. Negativ wie eh und je. Das musst du wohl so
sehen.»
    «Vielleicht
gibt es ja einen Grund dafür. Hast du dir das schon mal überlegt?»
    «Ich hatte
nur den Eindruck, dass du frei und unbelastet bist. Weißt du, Joey, ein Studium
dauert nicht lange. Als ich jung war, habe ich mich gebunden und eine Menge
Erfahrungen verpasst, die mir wahrscheinlich gutgetan hätten. Aber vielleicht
war ich da ja noch nicht so reif wie du.»
    «Klar»,
sagte er und fand sich knallhart und, tatsächlich, auch reif. «Vielleicht.»
    «Ich
möchte nur darauf hinweisen, dass du mich irgendwie belogen hast, wann war
das, vor zwei Monaten, als ich dich nach Connie fragte. Was, also das Lügen,
vielleicht nicht gerade das Reifste ist.»
    «Deine
Frage war nicht freundlich.»
    «Und deine
Antwort war nicht ehrlich! Nicht dass du mir unbedingt Ehrlichkeit schuldest,
aber seien wir wenigstens jetzt offen zueinander.»
    «Es war an
Weihnachten. Ich habe gesagt, ich glaube, sie ist in St. Paul.»
    «Ja,
genau. Ich will ja nicht darauf rumreiten, aber wenn einer
sagt, heißt das in der Regel, dass er es nicht sicher weiß. Du hast so getan,
als wüsstest du etwas nicht, was du sehr wohl wusstest.»
    «Ich habe
gesagt, wo sie meiner Ansicht nach war. Aber sie hätte auch in Wisconsin oder
sonst wo sein können.»
    «Stimmt,
eine ihrer vielen engen Freundinnen besuchen.»
    «Mensch!»,
sagte er. «Das kannst du wirklich nur dir selber zuschreiben.»
    «Versteh
mich nicht falsch», sagte sie. «Ich finde es ganz großartig, dass du jetzt da bei
ihr bist, und das meine ich ernst. Das spricht sehr für dich. Es macht mich
stolz, dass du dich um jemanden kümmern willst, der dir wichtig ist. Ich kenne
auch jemanden mit Depressionen, und glaub mir, ich weiß, das ist kein
Zuckerschlecken. Nimmt Connie etwas dagegen?»
    «Ja,
Cipramil.»
    «Na, ich
hoffe, es wirkt bei ihr. Mein Mittel hat bei mir nicht so gut gewirkt.»
    «Du hast
Antidepressiva genommen? Wann?»
    «Ach, erst
in letzter Zeit.»
    «O Gott,
ich hatte ja keine Ahnung.»
    «Weil ich,
wenn ich sage, du sollst frei und unbelastet sein, es ernst meine. Ich wollte
nicht, dass du dir meinetwegen Sorgen machst.»
    «Du
hättest es mir aber doch wenigstens sagen können.»
    «Es war
sowieso bloß für ein paar Monate. Ich war nicht gerade eine Vorzeigepatientin.»
    «Du musst
solchen Medikamenten ein bisschen Zeit geben», sagte er.
    «Ja, das
haben alle gesagt. Besonders Dad, der
sozusagen das meiste von mir abkriegt. Er hat sehr bedauert, dass die guten
Zeiten dahin waren. Aber ich war froh, dass ich meinen Kopf wiederhatte, so wie
er nun mal ist.»
    «Es tut
mir wirklich leid.»
    «Ach,
weißt du. Hättest du mir das mit Connie vor einem Vierteljahr

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