Franzen, Jonathan
schon bald wurde ihre Lage ziemlich gruselig, und die
Autobiographin, die vermutlich schon weit mehr über diese Dinge gesagt hat, als
ihr Leser wissen möchte, wird ihm die Szenen kleinlicher Eifersucht und
gegenseitiger Schuldzuweisungen und unverhohlener Enttäuschung ersparen, die
dazu führten, dass sie sich im nicht allzu Guten von Richard trennte. Die
Autobiographin erinnert das an die Versuche ihres Landes, sich aus Vietnam
zurückzuziehen, die damit endeten, dass die vietnamesischen Freunde vom Dach
der Botschaft geworfen, aus den abfliegenden Hubschraubern gestoßen und in
einem Land zurückgelassen wurden, wo sie Massaker und brutale
Internierungslager erwarteten. Aber das ist nun wirklich alles, was sie von Richard
erzählen wird, abgesehen von einer weiteren, kleinen Episode gegen Ende dieses
Schriftstücks.
Seit fünf
Jahren lebt Patty nun in Brooklyn und arbeitet als Zweitlehrerin an einer
Privatschule, an der sie Erstklässlern beim Schreiben- und Lesenlernen hilft
und mit den fünften bis achten Klassen Soft- und Basketball trainiert. Wie sie
zu diesem erbärmlich bezahlten, ansonsten aber nahezu idealen Job kam, begab
sich folgendermaßen.
Nachdem
sie Richard verlassen hatte, zog sie zu ihrer Freundin Cathy nach Wisconsin, und der Zufall wollte es, dass Cathys Lebenspartnerin
Donna zwei Jahre zuvor Mutter von Zwillingsmädchen geworden war. Cathy war Strafverteidigerin, Donna arbeitete in einem Heim für obdachlose
Frauen, und zusammen verdienten sie ein annehmbares
Gehalt und fanden in der Nacht eine für eine Person
annehmbare Menge Schlaf. Also bot Patty ihnen ihre Dienste als
Vollzeit-Babysitterin an und schloss ihre Schützlinge sofort ins Herz. Sie
heißen Natasha und Selena und sind famose, ungewöhnliche Mädchen. Sie schienen mit einem
viktorianischen Gespür für gutes Kinderbenehmen auf die Welt gekommen zu sein -
selbst ihrem Geschrei, wenn sie sich denn je dazu genötigt sahen, gingen ein,
zwei Momente besonnenen Nachdenkens voraus. Die Mädchen waren natürlich
vorwiegend miteinander beschäftigt, beobachteten einander, befragten einander,
lernten voneinander, verglichen ihre Spielsachen oder das Essen auf ihren
Tellern mit lebhaftem Interesse, selten Konkurrenzdrang oder Neid; sie wirkten
gemeinschaftlich vernünftig. Wenn Patty mit einem der Mädchen
redete, hörte auch das andere zu, mit einer Aufmerksamkeit, die Respekt, aber
keine Schüchternheit erkennen ließ. Da sie zwei Jahre alt waren, durften sie
keine Sekunde aus den Augen gelassen werden, doch Patty wurde es buchstäblich
nie müde. Die Wahrheit war - und es ging ihr besser, wenn sie sich das ins
Gedächtnis rief -, dass sie mit kleinen Kindern so gut zurechtkam wie mit
Erwachsenen schlecht. Sie zog eine tiefgehende, anhaltende Freude aus den
Wundern des Erlernens motorischer Fertigkeiten, der Sprachentwicklung, der
Sozialisation, der Persönlichkeitsentfaltung - zumal der Fortschritt, den die
Zwillinge machten, mitunter von einem Tag auf den anderen sichtbar wurde -, aus
der Unschuld der Kinder, die gar nicht wussten, wie lustig sie waren, aus ihrer
klar zum Ausdruck gebrachten Bedürftigkeit und ihrem grenzenlosen Vertrauen zu
ihr. Der Autobiographin fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie konkret diese
Freude war, aber immerhin konnte sie jetzt sehen, dass sie wenigstens mit ihrem
Wunsch, Mutter zu sein, keinen Fehler gemacht hatte.
Vielleicht
wäre sie noch viel länger in Wisconsin geblieben, wenn nicht ihr Vater krank
geworden wäre. Ihr Leser hat bestimmt von Rays Krebsleiden gehört, von dessen
aggressivem, jähem Ausbruch und rasantem Fortschreiten. Cathy, die selbst sehr vernünftig ist, drängte Patty, nach Westchester zu fahren, bevor es zu spät sei. Patty machte sich mit viel Zittern
und Zagen auf den Weg und stellte dann fest, dass das Haus ihrer Kindheit sich,
seit sie zuletzt dort gewesen war, kaum verändert hatte. Die Kisten mit altem
Wahlkampfmaterial waren noch zahlreicher geworden, die Schimmelflecken im
Keller noch dunkler, Rays Büchertürme noch höher und wackliger, Joyces Ordner mit
nie ausprobierten Rezepten aus dem Ernährungsteil der Times noch
dicker, die Stapel ungelesener Ti'raes-Sonntagsausgaben noch vergilbter, die
Wertstofftonnen noch überfüllter, die Ergebnisse von Joyces
Möchtegernversuchen als Blumengärtnerin noch mehr von Wildwuchs und Zufall
geprägt, ihre reflexhaft liberalen Weltanschauungen noch
wirklichkeitsresistenter, ihre Unruhe und Anspannung in Gegenwart
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