Franzen, Jonathan
das für sie den
zusätzlichen Reiz, dass sie ihn zurückrufen und hoffen konnte, statt seiner mit
Richard zu sprechen, aber Richard schien leider Gottes nie zu Hause zu sein,
wenn Walter unterwegs war.
In den
winzigen Lücken zwischen den Zeitblöcken, in denen sie Walters Fragen
beantwortete, brachte sie immerhin in Erfahrung, dass er aus Hibbing,
Minnesota, stammte und sein Jurastudium zum Teil selbst finanzierte, indem er
bei demselben Bauunternehmer, der Richard als Hilfsarbeiter beschäftigte,
einen Teilzeitjob als Schreiner hatte, und dass er, um sein Studienpensum zu
bewältigen, jeden Morgen um vier Uhr aufstehen musste. Er fing immer schon
gegen neun Uhr abends an zu gähnen, was Patty, wenn sie etwas zusammen
unternahmen, nur recht sein konnte, weil sie selbst so viel zu tun hatte. Wie
versprochen, schlossen sich ihnen stets drei Freundinnen von ihm aus der Schule
und dem College an, drei intelligente, kreative junge Frauen, deren
Gewichtsprobleme und weitgeschnittene Kleider Eliza zu beißenden Kommentaren
veranlasst hätten, wenn sie ihnen denn je begegnet wäre. Von dieser ihm
ergebenen Troika bekam
Patty auch einen ersten Eindruck davon vermittelt, was für ein sagenhaft
anständiger Mensch er war.
Laut
seinen Freundinnen war Walter in einem beengten Wohnbereich hinter dem
Büroraum eines Motels namens The Whispering Pines aufgewachsen,
mit einem Alkoholikervater, einem älteren Bruder, der ihn regelmäßig
verprügelte, einem jüngeren Bruder, der dem Älteren gewissenhaft darin
nacheiferte, sich über Walter lustig zu machen, und einer Mutter, deren
körperliche Gebrechen und allgemeine Antriebsschwäche ihre Tauglichkeit als
Reinigungskraft und Nachtrezeptionistin des Motels so sehr einschränkten, dass
Walter im Sommer, während der Hochsaison, häufig den ganzen Nachmittag lang die
Zimmer sauber machte und abends spät eintreffende Gäste in Empfang nahm,
während der Vater mit seinen Veteranenkumpels trank und die Mutter schlief. Das
kam zu seinen regulären Aufgaben noch hinzu, denn hauptsächlich musste er seinem
Vater bei der Instandhaltung der Motelanlage helfen, was von der Ausbesserung
des Parkplatzes über das Freispindeln verstopfter Abflüsse bis hin zur
Reparatur des Boilers so gut wie alles umfasste. Sein Vater war auf seine Hilfe
angewiesen, und Walter gewährte sie ihm in der beständigen Hoffnung, seine
Anerkennung zu erlangen, die ihm jedoch, so Walters Freundinnen, verwehrt
bleiben würde, weil er zu sensibel und zu gebildet war und sich (anders als
seine Brüder) nicht genügend für Jagden, Trucks und Bier
begeisterte. Obwohl er also so etwas wie einen ganzjährigen, unbezahlten Vollzeitjob
hatte, war es Walter auch noch gelungen, Hauptrollen in schulischen Theater-
und Musicalaufführungen zu übernehmen, etlichen Freunden aus Kindertagen die
Treue zu halten, von seiner Mutter kochen und die Grundlagen des Nähens zu
lernen, seinem Interesse an der Natur nachzugehen (tropische Fische; Ameisenfarmen;
Notfallversorgung verwaister Nestlinge; Blumen pressen) und die Highschool als
Jahrgangsbester abzuschließen. Er bekam ein Stipendienangebot für eine der
Ivy-League-Eliteuniversitäten, entschied sich aber für das Macalester, weil es
nur gerade so weit von Hibbing entfernt war, dass er an den Wochenenden mit dem
Bus nach Hause fahren und seiner Mutter im Kampf gegen den um sich greifenden
Verfall des Motels helfen konnte (der Vater hatte offenbar inzwischen ein
Lungenemphysem und war zu nichts mehr zu gebrauchen). Walter hatte davon
geträumt, Filmregisseur oder sogar Schauspieler zu werden, doch stattdessen
studierte er nun Jura, denn «irgendjemand in der Familie», so hatte er sich
wohl ausgedrückt, musste schließlich «ein richtiges Einkommen haben».
Paradoxerweise
- schließlich wollte sie ja nichts von Walter - empfand Patty die Gegenwart
anderer Mädchen, ohne die sie mit ihm allein gewesen wäre, als Konkurrenz und
leichtes Ärgernis und stellte mit Genugtuung fest, dass nur sie es war, keine
sonst, die seine Augen zum Leuchten brachte und ihm diese unaufhaltsame Röte in
die Wangen trieb. Patty war gern der Star, o ja. Unter so ziemlich allen
Umständen. Als sie sich das letzte Mal ein Stück angesehen hatten, im Dezember
am Guthrie-Theater, war Walter gerade noch rechtzeitig angekommen, über und
über mit Schnee bedeckt, und hatte ihnen allen Weihnachtsgeschenke mitgebracht,
den Freundinnen Taschenbücher und Patty einen riesigen Weihnachtsstern, den er
im Bus
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