Franzen, Jonathan
sexuellen und fäkalen
Anspielungen nur so wimmelnden Schlagabtausch zwischen ihrem Vater und ihrer
mittleren Schwester sowie die «Beschwerde» dieser mittleren Schwester über das
anspruchslose Pensum ihres ersten Jahrs in Yale und die späten Zweifel ihrer Mutter an ihrer zwanzig Jahre zuvor
getroffenen Entscheidung, Hanukkah und andere jüdische Feiertage nicht mehr zu
begehen. «Und wie ist es bei dir?», fragte Patty ihn nach einer halben Stunde.
«Gut»,
sagte er. «Meine Mutter und ich backen gerade. Richard spielt mit meinem Vater
Schach.»
«Das
klingt schön. Ich wünschte, ich wäre bei euch.»
«Ich auch.
Wir könnten Schneeschuhwandern gehen.»
«Das
klingt wirklich schön.»
Es war
Patty ernst damit, und sie hätte nicht mehr sagen können, ob es Richards
Gegenwart war, die Walter anziehend machte, oder ob er allein seiner selbst
wegen anziehend war - seiner Gabe wegen, jeden Ort, an dem er sich aufhielt, so
erscheinen zu lassen, als könnte man dort zu Hause sein.
Der
schreckliche Anruf von Eliza ging am Abend des ersten Weihnachtstags ein. Patty
nahm ihn auf dem Nebenanschluss im Keller entgegen, wo sie gerade ein NBA-Spiel
sah. Bevor sie auch nur zu einer Entschuldigung ansetzen konnte, entschuldigte
sich schon Eliza dafür, dass sie sich nicht gemeldet hatte, und sagte, sie sei
damit zugange gewesen, verschiedene Ärzte aufzusuchen. «Es heißt, ich habe
Leukämie», sagte sie.
«Nein.»
«Ich fange
nach Silvester mit den Behandlungen an. Meine Eltern sind die Einzigen, die es
wissen, und du darfst es niemandem erzählen. Vor allem Richard nicht. Schwörst
du mir, dass du es niemandem erzählst?»
Pattys Wolke aus Schuldgefühlen und Sorge verdichtete sich zu einem
emotionalen Gewittersturm. Sie weinte und weinte und fragte Eliza, ob sie sich
denn sicher sei, ob die Ärzte sich sicher seien.
Eliza erklärte ihr, sie habe sich im Lauf des Herbstes zunehmend schlapp
gefühlt, aber niemandem etwas davon sagen wollen, weil sie befürchtet habe,
Richard würde mit ihr Schluss machen, falls sich herausstellte, dass es
Pfeiffersches Drüsenfieber sei, doch schließlich sei es ihr so dreckig
gegangen, dass sie einen Arzt aufgesucht habe, und vor zwei Tagen sei dann das
Urteil gesprochen worden: Leukämie.
«Ist es
die schlimme Art?»
«Alle Leukämiearten
sind schlimm.»
«Ich
meine, kann man bei dieser Art wieder gesund werden?»
«Die
Chancen, dass die Behandlungen anschlagen, stehen gut», sagte Eliza. «In einer
Woche weiß ich mehr.»
«Ich komme
früher zurück. Ich kann bei dir wohnen.»
Doch
komischerweise wollte Eliza gar nicht mehr, dass Patty bei ihr wohnte.
Was die
Sache mit dem Weihnachtsmann betrifft: Die Autobiographin hat kein Verständnis
für Eltern, die lügen, und doch gibt es gewisse Abstufungen. Man kann ein Kind
anlügen, für das man eine Überraschungsparty organisiert, man kann es anlügen,
um sich einen Spaß mit ihm zu machen, oder aber man lügt, damit das Kind, das
einem glaubt, dumm dasteht. Einmal, als Patty ein Teenager war, hatte ihre
Familie sie an Weihnachten wegen ihres unnatürlich langlebigen Glaubens an den
Weihnachtsmann (den sie sich auch dann nicht nehmen ließ, als zwei ihrer
jüngeren Geschwister ihn bereits verloren hatten) so gehänselt, dass sie sich
vor lauter Wut weigerte, zum Weihnachtsessen aus ihrem Zimmer zu kommen. Ihr
Vater, der zu ihr hinging, um sie umzustimmen, hörte zur Abwechslung
tatsächlich einmal auf zu lächeln und sagte ihr ernst, die Familie habe ihr
diese Illusion gelassen, weil ihre Unschuld wunderschön sei, und sie liebten
sie gerade deshalb besonders. Einerseits hörte sie das gern, andererseits aber
war es offenkundiger Blödsinn, den das Vergnügen, mit dem alle sie hänselten,
Lügen strafte. Patty fand, dass Eltern ihren Kindern beibringen sollten, die
Augen nicht vor der Wirklichkeit zu verschließen.
Es genügt
wohl zu sagen, dass Patty während der vielen Winterwochen, in denen sie für
Eliza die Florence Nightingale spielte - durch
einen Schneesturm stapfte, um ihr Suppe zu bringen, ihr die Küche und das Bad
putzte, am Abend lange mit ihr aufblieb und fernsah, obwohl sie vor ihren
Spielen dringend hätte schlafen müssen, manchmal mit ihrer ausgemergelten
Freundin im Arm einschlief, extreme verbale Zärtlichkeiten über sich ergehen
ließ («Mein süßester Engel», «Wenn ich dein Gesicht sehe, bin ich im Himmel»
usw. usw.) und sich unterdessen weigerte, Walter zurückzurufen und ihm zu
erklären, warum
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