Franzen, Jonathan
sie keine Zeit mehr für ihn hatte -, jede Menge Warnsignale
übersah. Nein, sagte Eliza, bei dieser speziellen Chemotherapie fielen einem
nicht die Haare aus. Und nein, es sei nicht möglich, die Behandlungstermine so
zu legen, dass Patty sie von der Klinik abholen und nach Hause bringen könne.
Und nein, sie wolle ihre Wohnung nicht aufgeben und zu ihren Eltern ziehen, und
ja, ihre Eltern kämen sie andauernd besuchen, es sei reiner Zufall, dass Patty
ihnen nie begegne, und nein, für Krebspatienten sei es nicht ungewöhnlich, sich
mit so einer Nadel, wie Patty sie auf dem Boden unter ihrem Nachtschrank
entdeckt habe, Antiemetika zu spritzen.
Das
auffälligste Warnsignal war womöglich die Art und Weise, wie sie, Patty, Walter
aus dem Weg ging. Sie sah ihn bei zwei Spielen im Januar und sprach kurz mit
ihm, aber danach versäumte er eine Reihe von Spielen, und als sie auf seine
zahlreichen darauffolgenden telefonischen Nachrichten nicht reagierte, redete
sie sich ein, es sei ihr einfach peinlich zuzugeben, wie viel Zeit sie mit
Eliza verbrachte. Aber warum hätte es ihr peinlich sein sollen, sich um eine
Freundin zu kümmern, die Krebs hatte? Und analog dazu: Wäre es damals, als sie
in die fünfte Klasse ging, wirklich so schwie rig gewesen zu bemerken, dass ihre Schulkameraden allesamt nur noch Hohn
für den Weihnachtsmann übrig hatten, wenn sie auch nur das geringste Interesse
daran gehabt hätte, die Wahrheit zu erfahren? Sie warf den großen
Weihnachtsstern weg, obwohl er noch Leben in sich hatte.
An jenem
verschneiten Tag Ende Februar, an dem das wichtige Spiel der Gophers gegen die UCL A Bruins stattfinden
sollte, den ranghöchsten Gegner der Saison, bekam Walter sie schließlich zu
fassen. Patty war nach einem morgendlichen Telefonat mit ihrer Mutter, die an
diesem Tag Geburtstag hatte, bereits schlecht auf die Welt zu sprechen. Sie war
entschlossen gewesen, kein Wort über ihr eigenes Leben zu verlieren, weil sie
nicht zum x-ten Mal merken wollte, dass Joyce sowieso nicht zuhörte und sich
einen Dreck um den Tabellenplatz ihrer gegnerischen Mannschaft scherte, aber
sie hatte gar nicht erst die Chance bekommen, sich in derlei Zurückhaltung zu
üben, so aufgeregt war Joyce gewesen, weil Pattys mittlere Schwester auf besonderes Drängen ihres Yale-Professors für
die Hauptrolle in einer Off-Broadway-Wiederaufnahme von Carson McCullers Stück Mit von der Partie vorgesprochen
und sich als Zweitbesetzung qualifiziert hatte, was offenbar eine Riesensache
war und eventuell dazu führen würde, dass die Schwester ihr Studium in Yale unterbrach und wieder zu Hause wohnte und sich ganz dem Theater
widmete; und Joyce war wie berauscht gewesen.
Als Patty
Walter um die kahle, zugige Ecke der Wilson Library biegen sah, machte sie
kehrt und eilte davon, aber er rannte ihr hinterher. Auf seiner großen
Pelzmütze hatte sich Schnee gesammelt; sein Gesicht war so rot wie ein
Leuchtfeuer. Obwohl er sich bemühte, zu lächeln und freundlich zu sein, brach
seine Stimme, als er Patty fragte, ob ihr denn keine seiner Nachrichten
ausgerichtet worden sei.
«Doch,
aber ich hatte einfach so viel um die Ohren», sagte sie. «Es tut mir wirklich
leid, dass ich nicht zurückgerufen habe.»
«Ist es
wegen irgendwas, das ich gesagt habe? Habe
ich dich irgendwie gekränkt?»
Er war
verletzt und wütend, und sie hasste das. «Nein, nein, überhaupt nicht», sagte
sie.
«Ich hätte
sogar noch öfter angerufen, aber ich wollte dich nicht andauernd stören.»
«Einfach
nur sehr, sehr viel um die Ohren», murmelte sie, während der Schnee fiel.
«Die, die
bei euch ans Telefon geht, klang von Mal zu Mal gereizter, weil ich immer
dieselbe Nachricht hinterlassen habe.»
«Na ja,
ihr Zimmer liegt ja auch direkt neben dem Telefon, deshalb. Das kann man doch
verstehen. Sie nimmt eine Menge Anrufe entgegen.»
«Ich
verstehe es nicht», sagte Walter, jetzt den Tränen
nahe. «Möchtest du, dass ich dich in Ruhe lasse? Ist es das?» Sie hasste solche
Szenen, sie hasste sie.
«Ich bin
wirklich einfach nur sehr beschäftigt», sagte sie. «Und heute Abend habe ich
übrigens ein wichtiges Spiel, also -»
«Nein»,
sagte Walter, «irgendetwas stimmt nicht. Was ist los? Du wirkst so
unglücklich!»
Sie wollte
ihm nicht von dem Telefonat mit ihrer Mutter erzählen, weil sie sich mental in
Wettkampfbereitschaft bringen musste und es das Beste war, sich nicht zu lange
bei solchen Dingen aufzuhalten. Aber Walter insistierte so verzweifelt
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