Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
Vom Netzwerk:
sahen sie so grimmig drein wie Leute, die
heilfroh gewesen waren, dass man sie mit genau dieser Art von Problem lange
Zeit verschont hatte. Patty fand es faszinierend, sie endlich kennenzulernen,
was offensichtlich nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Der Vater hatte einen
Vollbart und tiefliegende dunkle Augen, die Mutter war zierlich und trug hochhackige
Lederstiefel, und von ihnen zusammen ging eine starke sexuelle Schwingung aus,
die Patty nicht nur an französische Filme, sondern auch an Elizas Bemerkung erinnerte, sie seien füreinander die ganz große Liebe. Patty
wäre nicht böse gewesen, wenn sie ein paar Worte der Entschuldigung dafür
gefunden hätten, dass sie ihre gestörte Tochter auf ahnungslose Dritte wie sie
losgelassen hatten, oder des Dankes, weil sie in den vergangenen zwei Jahren
die Verantwortung für ihre Tochter auf sie hatten abwälzen können, oder des
Eingeständnisses, dass irgendwer die jüngste Krise ja wohl mit seinem Geld
subventioniert haben musste. Aber sobald die kleine Kernfamilie im Wohnzimmer
beisammen war, entspann sich ein seltsames diagnostisches Schauspiel, in dem
für Patty keine Rolle vorgesehen schien.
    «Also, was
für Drogen», sagte der Vater.
    «Mhm,
Smack», sagte Eliza.
    «Heroin,
Zigaretten, Alkohol. Was noch? Sonst noch irgendwas?»
    «Ab und zu
ein bisschen Koks. In letzter Zeit nicht mehr so oft.»
    «Noch was?»
    «Nein, das
ist alles.»
    «Und deine
Freundin? Nimmt sie auch Drogen?»
    «Nein, sie
ist ein Riesen-Basketballstar», sagte Eliza. «Das habe ich euch doch erzählt. Absolut
mustergültig. Sie ist phantastisch.»
    « Wusste
sie, dass du welche nimmst?»
    «Nein, ich
habe ihr gesagt, ich hätte Krebs. Sie wusste nichts.»
    «Wie lange
geht das schon so?»
    «Seit
Weihnachten.»
    «Und sie
hat dir geglaubt. Du hast dir eine ganze Lügengeschichte ausgedacht, die sie
dir abgenommen hat.» Eliza kicherte.
    «Ja, ich
habe ihr geglaubt», sagte Patty.
    Der Vater
blickte nicht mal flüchtig in ihre Richtung. «Und was ist das hier», sagte er
und hielt das blaue Ringbuch hoch. «Das ist mein Patty-Buch», sagte Eliza.
    «Scheint
so eine Art Schnipselbuch zu sein», sagte der Vater zu der Mutter. «Ziemlich
obsessiv.»
    «Sie hat
also gesagt, sie will dich nicht mehr sehen», sagte die Mutter, «und dann hast
du gesagt, du bringst dich um.»
    «So
ähnlich, ja», gab Eliza zu.
    «In der
Tat sehr obsessiv», merkte der Vater an, während er in den Seiten blätterte.
    «Bist du
wirklich selbstmordgefährdet?», sagte die Mutter. «Oder war das nur eine
Drohung, damit deine Freundin nicht weggeht.»
    «Hauptsächlich
eine Drohung», sagte Eliza.
    «Hauptsächlich?»
    «Na gut,
ich bin nicht wirklich selbstmordgefährdet.»
    «Aber dir
ist klar, dass wir es trotzdem ernst nehmen müssen», sagte die Mutter. «Uns
bleibt gar nichts anderes übrig.»
    «Na, dann
werde ich jetzt mal gehen», sagte Patty. «Ich habe morgen früh ein Seminar,
also -»
    «Was für
einen Krebs hast du denn angeblich gehabt?», sagte der Vater. «Wo in deinem
Körper saß er genau?»
    «Ich habe
gesagt, ich hätte Leukämie.»
    «Aha, im
Blut. Ein fiktiver Krebs in deinem Blut.»
    Patty
legte das Drogenzeug auf das Polster eines Sessels. «Das lasse ich mal hier»,
sagte sie. «Ich muss jetzt
wirklich gehen.»
    Die Eltern
schauten zu ihr, wechselten einen Blick und nickten.
    Eliza
stand vom Sofa auf. «Wann sehen wir uns wieder? Sehen wir uns morgen?»
    «Nein»,
sagte Patty. «Ich glaube nicht.»
    «Warte!»
Eliza lief zu ihr und packte ihre Hand. «Ich habe Scheiße gebaut, aber ich
werde mich bessern, und dann können wir uns wiedersehen. Ja?»
    «Meinetwegen»,
log Patty, als die Eltern hinzutraten, um ihre Tochter von ihr loszueisen.
    Draußen
hatte der Himmel aufgeklart, und die Temperatur war auf gut und gerne minus 15
Grad gesunken. Patty pumpte sich Atemzug für Atemzug der cleanen Luft bis tief
hinunter in die Lungen. Sie war frei! Sie war frei! Und ach, wie sie sich jetzt
wünschte, das Spiel gegen die UCLA noch einmal spielen zu können. Selbst um ein
Uhr am Morgen, selbst mit leerem Magen fühlte sie sich zu Höchstleistungen
bereit. Vor schierer Beglückung über ihre Freiheit rannte sie Elizas Straße entlang, und erst jetzt, drei Stunden später, hörte sie die
Worte der Trainerin wirklich, hörte sie sie sagen, es sei doch nur ein
einzelnes Spiel gewesen, jeder habe mal einen schlechten Tag, und morgen werde
sie wieder die Alte sein. Sie war bereit, sich intensiver denn je

Weitere Kostenlose Bücher