Franzen, Jonathan
darum zu
kümmern, dass sie in Form blieb und ihr Können noch steigerte, war bereit,
öfter mit Walter ins Theater zu gehen, war bereit, zu ihrer Mutter zu sagen:
«Das ist ja großartig, was du von dem Carson-McCullers-Stück erzählt hast!»
Kurz, sie war bereit, ein rundum besserer Mensch zu werden. In ihrer Beglückung
lief sie so blindlings drauflos, dass sie das schwarze Eis auf dem Gehweg nicht
sah, bis ihr linkes Bein auf grausige Weise hinter dem rechten zur Seite
weggerutscht war und es ihr regelrecht das Knie zerrissen hatte und sie auf dem
Boden lag.
Über die
darauffolgenden sechs Wochen gibt es nicht viel zu sagen. Sie wurde zweimal
operiert, das zweite Mal wegen einer von der ersten Operation herrührenden
Infektion, und entwickelte sich zu einer erstklassigen Krückenbenutzerin. Ihre
Mutter setzte sich ins Flugzeug, um bei der ersten Operation zur Stelle zu
sein, und behandelte das Krankenhauspersonal wie mittelwestliche Bauerntrampel
von zweifelhafter Intelligenz, woraufhin Patty sich für sie entschuldigte und
besonders umgänglich war, sooft ihre Mutter sich nicht im Zimmer aufhielt. Als
sich herausstellte, dass Joyce den Ärzten womöglich zu Recht misstraut hatte,
verdross Patty das so sehr, dass sie sie über die zweite Operation erst einen
Tag, bevor sie stattfinden sollte, informierte. Sie versicherte Joyce, es sei
nicht nötig, noch einmal ins Flugzeug zu steigen - sie habe Scharen von
Freunden, die sich um sie kümmerten.
Walter
Berglund hatte von seiner eigenen Mutter gelernt, wie man kränkelnde Frauen
umsorgt, und er machte sich Pattys längerfristige
Behinderung zunutze, um sich wieder in ihr Leben einzufügen. Am Tag nach ihrer
ersten Operation erschien er mit einer gut einen Meter hohen Zimmertanne und
erklärte, sie habe doch bestimmt mehr Freude an einer lebenden Pflanze als an
Schnittblumen, die nicht lange hielten. Danach richtete er es ein, Patty fast
jeden Tag außer an den Wochenenden, wenn er in Hibbing war und seinen Eltern
zur Hand ging, zu besuchen, und bei ihren Sportskameradinnen machte er sich
mit seiner Nettigkeit schnell beliebt. Ihren biedereren Freundinnen gefiel es,
wie viel aufmerksamer er ihnen zuhörte als all die anderen Jungs, die nicht in
der Lage waren, durch ihr Äußeres hindurchzusehen, und Cathy Schmidt, ihre klügste Freundin, meinte, dass Walter intelligent genug
für den Obersten Gerichtshof sei. Es war etwas völlig Neues in der Welt des
Sportlerinnendaseins, einen Mann in ihrer Mitte zu haben, in dessen Gegenwart
alle derart unbefangen und entspannt sein konnten, einen, der in den Pausen
zwischen den Lehrveranstaltungen ganz selbstverständlich mit ihnen im
Aufenthaltsraum herumhing und einer von ihnen war. Und alle sahen, dass er ein
Faible für Patty hatte, und alle außer Cathy Schmidt
stimmten darin überein, das einfach großartig zu finden.
Wie
gesagt, Cathy war
scharfsinniger als die anderen. «Du stehst nicht wirklich auf ihn, oder», sagte
sie.
«Irgendwie
schon», sagte Patty. «Aber irgendwie auch nicht.»
«Das heißt
also ... ihr beide seid nicht...»
«Nein!
Nichts dergleichen. Ich hätte ihm wahrscheinlich nie erzählen sollen, dass ich
vergewaltigt worden bin. Er wurde ganz kribbelig, als ich ihm davon erzählt
habe. Ganz ... zartfühlend und ... mütterlich und ... besorgt. Und jetzt kommt es mir so vor, als
ob er auf eine schriftliche Erlaubnis wartet oder darauf hofft, dass ich die
Initiative ergreife oder so. Die Krücken sind da wahrscheinlich auch nicht
gerade hilfreich. Es ist, als wäre mir ein sehr lieber, guterzogener Hund
zugelaufen, der mir auf Schritt und Tritt folgt.»
«Das ist
ja nicht so toll», sagte Cathy.
«Nein. Ist
es nicht. Aber ich kann ihn ja nicht wegschicken, immerhin ist er unglaublich
nett zu mir, und außerdem unterhalte ich mich richtig gern mit ihm.»
«Du stehst
also schon irgendwie auf ihn.»
«Genau.
Vielleicht sogar ein bisschen mehr als irgendwie. Aber -»
«Aber
nicht sehr viel mehr.»
«Genau.»
Walter
interessierte sich für alles. Er las jedes Wort in der Tageszeitung und im Time
Magazine, und im April, als Patty wieder halbwegs gehfähig war,
begann er, sie in Vorträge und Kunst- und Dokumentarfilme mitzunehmen, in die
sie sonst im Traum nicht gegangen wäre. Ob es nun an seiner Liebe lag oder an
den vielen verletzungsbedingten Lücken in ihrem Terminkalender - es war das
erste Mal, dass jemand hinter ihre Sportlerinnenfassade geblickt und drinnen
Licht gesehen hatte. Obwohl sie
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