Franzen, Jonathan
ungemein aufregend und erleichternd für sie gewesen war -
aufregend, weil sie Richard so aufregend fand, und erleichternd, weil sie sich,
nachdem sie monatelang jemand zu sein versucht hatte, der sie nicht oder
zumindest nicht gänzlich war, endlich gefühlt und auch geklungen hatte wie sie
selbst, ohne alle Verstellung. Und deshalb wusste sie, dass sie eine
Möglichkeit finden würde, mit ihm mitzufahren. Sie musste nur noch ihr schlechtes
Gewissen gegenüber Walter und ihren Kummer bezwingen, dass sie nicht der Mensch
war, den sie beide so gern in ihr gesehen hätten. Wie richtig er damit gelegen
hatte, es langsam mit ihr angehen zu lassen! Wie gut er über ihren
zweifelhaften Charakter im Bilde war! Wenn sie bedachte, wie richtig und gut
er sie einschätzte, wurden ihr Bedauern und ihr schlechtes Gewissen, ihn
enttäuschen zu müssen, nur umso größer, und schon drehte sie weitere Runden
auf dem Karussell der Unentschlossenheit.
Und dann hörte
sie fast eine Woche lang nichts von ihm. Sie vermutete, dass er auf Richards
Rat hin Abstand wahrte - dass Richard ihm einen frauenfeindlichen Vortrag über
weibliche Untreue und die Notwendigkeit, seine Gefühle besser zu schützen,
gehalten hatte. In ihrer Vorstellung war das ein großer Freundschaftsdienst und
zugleich eine Gemeinheit von Richard, weil es für Walter schrecklich
desillusionierend gewesen sein musste. Sie konnte nicht aufhören, daran zu
denken, wie er große Pflanzen in Bussen für sie transportiert hatte, an seine
weihnachtssternroten Wangen. Sie dachte an die Abende im Aufenthaltsraum ihres
Wohnheims zurück, an denen er der Flurschlaftablette Suzanne Storrs ins Netz gegangen war, die ihre Haare seitlich, knapp oberhalb
eines Ohrs, scheitelte und quer über den Kopf kämmte, und geduldig ihrem
monotonen, sauertöpfischen Geschwafel über das Abnehmen und die Härten der
Inflation und ihr überheiztes Wohnheimzimmer und ihre allumfassende Unzufriedenheit
mit der Verwaltung und dem Lehrkörper der Universität zugehört hatte, während
Patty, Cathy und ihre anderen Freundinnen sich
bei Fantasy Island bestens
amüsierten: wie Patty sich, wegen ihres Knies angeblich außer Gefecht gesetzt,
geweigert hatte, aufzustehen und ihn von Suzanne zu
erlösen, weil sie fürchtete, dass Suzanne dann alle
anderen mit ihrer Langweiligkeit behelligen würde, und wie Walter, der durchaus
imstande gewesen war, sich zusammen mit Patty über Suzanne lustig zu machen, und ganz bestimmt daran dachte, was er noch alles
zu tun hatte und dass er am nächsten Morgen früh aufstehen musste, sich
trotzdem an anderen Abenden erneut von ihr in die Falle locken ließ, weil Suzanne einen Narren an ihm gefressen hatte und sie ihm leidtat.
Es genügt
wohl zu sagen, dass Patty sich nicht recht dazu aufraffen konnte, Nägel mit
Köpfen zu machen. Sie sprachen erst wieder miteinander, als Walter sie aus
Hibbing anrief, um sich für sein Schweigen zu entschuldigen und ihr
mitzuteilen, dass sein Vater im Koma lag.
«Ach,
Walter, du fehlst mir!», rief sie aus, dabei war das nun genau so ein
Satz, den nicht zu sagen Richard sie beschworen hätte. «Du fehlst mir auch!»
Sie besann
sich darauf, ihn genauer nach dem Zustand seines Vaters zu fragen, obwohl es
nur dann sinnvoll war, eine gute Fragenstellerin zu sein, wenn sie die Absicht
hatte, bei ihm am Ball zu bleiben. Walter erzählte von Leberversagen,
Lungenödemen, einer beschissenen Prognose.
«Das tut
mir so leid», sagte sie. «Aber hör mal. Was das Zimmer angeht -»
«Ach, du
brauchst dich nicht jetzt zu entscheiden.»
«Nein,
aber du brauchst eine Antwort. Wenn du es an jemand anderen vermieten willst -»
«Lieber würde
ich es an dich vermieten!»
«Na gut,
und vielleicht nehme ich es ja auch, aber ich muss nächste Woche nach Hause und überlege, bei Richard mitzufahren. Er
will zur selben Zeit nach New York wie ich.»
Eventuelle
Zweifel, dass Walter womöglich nicht begreifen würde, worum es hier ging,
wurden von seinem plötzlichen Schweigen zerstreut.
«Hast du
nicht schon ein Flugticket?», sagte er dann.
«Es ist
eins von der Sorte, die man voll zurückerstattet bekommt», log sie.
«Das ist
gut», sagte er. «Aber, weißt du, Richard ist nicht besonders zuverlässig.»
«Schon
klar», sagte sie. «Du hast ja recht. Ich dachte nur, ich könnte ein bisschen
Geld sparen und es dann in die Miete stecken.» (Eine Verschlimmerung der Lüge.
Das Ticket hatten ihre Eltern gekauft.) «Egal, was passiert, ich zahle
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