Franzen, Jonathan
tief aus ihrem Inneren komme und er ihr Inneres liebe. Derlei Dinge
pflegte er zu ihr zu sagen - Geständnisse, die sie nicht erwidern konnte und
die sie dennoch berauschten. Aber als aus den ein, zwei Gläsern sechs oder acht
wurden, änderte sich alles. Für Walter war es dringend erforderlich, dass sie
abends nüchtern war, damit sie ihm zuhören konnte, wenn er über die vermeintlichen
moralischen Defizite ihres Sohnes sprach, während es für sie dringend
erforderlich war, nicht nüchtern zu sein, um sich eben das nicht anhören zu
müssen. Es war kein Alkoholismus, sondern Notwehr.
Und
hierin, genau hierin liegt ein tatsächliches, schweres persönliches Versagen
von Walter: Er konnte nicht akzeptieren, dass Joey nicht so war wie er.
Wenn Joey Mädchen gegenüber schüchtern und
zurückhaltend gewesen wäre, wenn es Joey Spaß gemacht hätte, die Rolle des
Kindes zu spielen, wenn Joey einen Vater gebraucht hätte, der ihm Dinge
beibrachte, wenn Joey aus tiefster Seele ehrlich gewesen wäre, wenn Joey Partei
für die Benachteiligten ergriffen hätte, wenn Joey die Natur geliebt hätte,
wenn Geld Joey gleichgültig gewesen wäre, dann wären er und Walter prächtig
miteinander ausgekommen. Aber Joey war, von Kindesbeinen an, eher jemand vom
Schlage eines Richard Katz - mühelos lässig, unerschütterlich selbstbewusst,
völlig auf das konzentriert, was er erreichen wollte, unempfindlich gegen
moralische Vorhaltungen, frei von Angst vor Mädchen -, und Walter kam mit all
seiner Frustration und Enttäuschung über seinen Sohn zu Patty und legte sie
ihr vor die Füße, als wäre sie schuld daran. Fünfzehn Jahre lang hatte er sie
angefleht, ihn bei seinen Erziehungsversuchen zu unterstützen, ihm dabei zu helfen,
das häusliche Verbot von Videospielen, exzessivem Fernsehen und Frauen
verachtender Musik durchzusetzen, aber Patty konnte nicht anders, als Joey
genauso zu lieben, wie er war. Den Einfallsreichtum, mit dem er Verbote
umging, fand sie bewundernswert und erheiternd: Der Junge schien ihr ganz und
gar unglaublich zu sein. Ein Einserschüler, hart arbeitend, in der Schule
beliebt, unternehmerisch genial. Vielleicht hätte sie sich, wäre sie allein
für ihn verantwortlich gewesen, mehr Sorgen um seine Erziehung gemacht. Aber
diese Aufgabe hatte Walter übernommen, und sie hatte sich dem Glauben
hingegeben, sie und ihren Sohn verbinde eine phantastische Freundschaft. Sie
weidete sich an seinen bösartigen Nachahmungen von Lehrern, die er nicht
mochte, sie gab schlüpfrige Klatschgeschichten aus der Nachbarschaft unzensiert
an ihn weiter, sie saß, ihre Knie umfassend, auf seinem Bett und machte vor
nichts halt, um ihn zum Lachen zu bringen; nicht einmal Walter war tabu. Sie
hatte nicht das Gefühl, dass sie Walter hinterging, wenn sie Joey dazu
anstiftete, über seine Marotten zu lachen - seine Abstinenz, sein Beharren
darauf, bei einem Schneesturm mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, seine
Wehrlosigkeit gegen Langweiler, seinen Hass auf Katzen,
seine Missbilligung von Papierhandtüchern, seinen Enthusiasmus für schwierige
Theaterstücke -, denn es waren ja alles Dinge, die sie selbst an ihm zu lieben
gelernt hatte oder wenigstens liebenswert amüsant an ihm fand, und sie wollte,
dass Joey Walter so sah wie sie. Das zumindest redete sie sich ein, denn, Hand
aufs Herz, im Grunde wollte sie vor allem, dass Joey von ihr selbst begeistert
war.
Wie er dem
Nachbarsmädchen treu und ergeben sein
konnte, war ihr schleierhaft. Sie glaubte, dass Connie Monaghan, hinterhältige kleine Wettkämpferin, die sie war, es
geschafft hatte, ihn mit einer Art dreckigem vorübergehendem Bann zu belegen.
Sie brauchte verheerend lange, um den Ernst der Monaghan'schen Bedrohung zu erkennen,
und in den Monaten, als sie Joeys Gefühle
für das Mädchen unterschätzte - als sie dachte, sie könnte Connie einfach wegekeln und ihre schlampige Mutter und deren verstockten
Freund unbeschwert verulken, und schon bald hätte auch Joey nur noch Spott für
sie übrig -, gelang es ihr, die Arbeit von fünfzehn Jahren, in denen sie sich
alle Mühe gegeben hatte, eine gute Mutter zu sein, zunichtezumachen. Sie
vermasselte es gewaltig, das muss man schon
sagen, und in der Folge geriet sie ziemlich aus dem Gleichgewicht. Sie hatte üble
Auseinandersetzungen mit Walter, in denen er ihr vorwarf, sie sorge dafür, dass
Joey ihnen vollends entgleite, wogegen sie sich nicht richtig verteidigen
konnte, weil sie ihre tiefe, krankhafte Überzeugung, dass
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