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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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sein. Es war keine große Sache, nur eine
kleine Spätabendüberraschung, und doch sieht es im autobiographischen Rückblick
jetzt fast wie der Höhepunkt ihres gemeinsamen Lebens aus. Oder vielleicht,
richtiger gesagt, wie dessen Endpunkt: das letzte Mal, dass sie sich als
verheiratete Frau wohl und sicher fühlte. Ihre Verbundenheit mit Walter in der
400 Bar, die Erinnerung an den Schauplatz ihrer allerersten Begegnung, die
Leichtigkeit im Zusammensein mit Richard, ihre freundschaftliche Wärme als
Paar, die schlichte Freude darüber, einen so alten und guten Freund zu haben,
und danach das für sie beide so seltene Geschenk ihres plötzlichen, heftigen
Verlangens, Walter in sich zu spüren: Die Ehe funktionierte. Und es
schien keinen zwingenden Grund zu geben, warum sie nicht weiterfunktionieren,
ja vielleicht sogar immer besser funktionieren sollte.
    Ein paar
Wochen später brach Dorothy in dem
Bekleidungsgeschäft in Grand Rapids zusammen.
Patty, wie ihre eigene Mutter klingend, äußerte Walter gegenüber Bedenken
hinsichtlich der qualitativen Versorgung im Krankenhaus und wurde auf tragische
Weise bestätigt, als Dorothy kurz
darauf infolge eines Multiorganversagens starb. Walters Trauer war einerseits
überdurchschnittlich groß, weil sie nicht nur den Verlust der Mutter, sondern
auch die kümmerlichen Dimensionen ihres gesamten Lebens einschloss, und
andererseits ein wenig verhalten, da ihr Tod für ihn auch eine Entlastung und
Befreiung war - er musste sich jetzt nicht mehr für sie verantwortlich fühlen,
der Hauptstrang, der ihn mit Minnesota verbunden hatte, war durchtrennt. Patty
war von der Heftigkeit ihrer eigenen Trauer überrascht. Genau wie Walter hatte
auch Dorothy immer nur das Beste von ihr
angenommen, und Patty haderte damit, dass für jemanden, der so großherzig
gewesen war wie Dorothy, keine
Ausnahme von jener Regel hatte gemacht werden können, nach der am Ende jeder für
sich alleine stirbt. Dass Dorothy in ihrer
stets vertrauensvollen Nettigkeit den bitteren Weg in den Tod ohne Begleitung
hatte gehen müssen: das durchbohrte Patty schier das Herz.
    Natürlich
bemitleidete sie sich auch selbst, wie Menschen es immer tun, wenn sie andere
bemitleiden, die einsam und verlassen gestorben sind. Während sie sich um die
Beerdigungsformalitäten kümmerte, befand sie sich in einem Geisteszustand,
dessen Fragilität, so hofft die Autobiographin, wenigstens zum Teil erklärt,
warum sie mit der Entdeckung, dass ein älteres Nachbarsmädchen, Connie Monaghan, Joey sexuell ausgenutzt hatte, so schlecht zurechtkam. Der
lange Katalog von Fehlern, die Patty infolge dieser Entdeckung machte, würde
den Rahmen dieses ohnehin schon umfangreichen Schriftstücks sprengen. Die
Autobiographin schämt sich für das, was sie Joey angetan hat, immer noch so
sehr, dass sie gar nicht weiß, wie sie vernünftig davon berichten soll. Wenn
man sich um drei Uhr morgens mit einem Teppichmesser in der Hand auf dem Gartenweg
hinter dem Haus seines Nachbarn wiederfindet und die Reifen von dessen Pick-up
zersticht, kann man in juristischer Hinsicht auf Unzurechnungsfähigkeit
plädieren. Aber auch in moralischer?
    Für die
Verteidigung: Patty hatte Walter gleich am Anfang gewarnt, was für ein Mensch
sie war. Sie hatte ihm gesagt, dass
irgendetwas mit ihr nicht stimmte.
    Für die
Anklage: Walter war angemessen vorsichtig gewesen. Es war Patty, die ihn bis
nach Hibbing verfolgt und sich ihm an den Hals geworfen hatte.
    Für die
Verteidigung: Aber sie versuchte doch, gut zu sein und ein gutes Leben zu
führen! Und deshalb wandte sie sich von allen anderen ab und arbeitete hart
daran, eine großartige Mutter und Hausfrau zu werden.
    Für die
Anklage: Ihre Motive waren unlauter. Sie konkurrierte dabei mit ihrer Mutter
und ihren Schwestern. Sie wollte, dass ihre Kinder ein Vorwurf gegen sie waren.
    Für die
Verteidigung: Aber sie liebte ihre Kinder!
    Für die
Anklage: Ihre Liebe zu Jessica hatte das richtige Maß, aber Joey liebte sie
viel zu sehr. Sie wusste, was sie da tat, und hörte doch nicht damit auf, weil
sie es Walter übelnahm, dass er nicht der war, den sie wollte, aber auch weil
sie einen schlechten Charakter hatte und glaubte, sie, ein Star und eine
Wettkämpferin, habe einen Ausgleich dafür verdient, im Dasein einer Hausfrau
gefangen zu sein.
    Für die
Verteidigung: Aber Liebe kommt von allein. Es war ja nicht ihre Schuld,
dass noch die kleinste Kleinigkeit an Joey ihr so viel Freude bereitete.
    Für die
Anklage:

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