Franzen, Jonathan
Es war ihre Schuld. Man kann nicht
begeistert Kekse und Eiscreme in sich hineinstopfen und dann behaupten, es
treffe einen keine Schuld, wenn man am Ende hundertfünfzig Kilo wiegt.
Für die
Verteidigung: Aber das wusste sie nicht! Sie glaubte, das Richtige zu tun,
indem sie ihren Kindern die Aufmerksamkeit und Liebe schenkte, die ihre Eltern
ihr vorenthalten hatten.
Für die
Anklage: Sie wusste es sehr wohl, denn Walter sagte es ihr, er sagte es ihr
immer und immer wieder.
Für die
Verteidigung: Aber auf Walter war kein Verlass. Sie glaubte, sie müsse für
Joey eintreten und der gute Bulle sein, weil Walter der böse Bulle war.
Für die
Anklage: Das Problem lag nicht bei Walter und Joey. Das Problem lag bei Patty
und Walter, und auch das wusste sie.
Für die
Verteidigung: Sie liebt Walter!
Für die
Anklage: Alle Indizien sprechen dagegen.
Für die
Verteidigung: Na schön, wenn das so ist, dann liebt Walter sie auch nicht. Er
liebt nicht den Menschen, der sie wirklich ist. Er liebt eine falsche
Vorstellung von ihr.
Für die
Anklage: Das könnte ihr so passen, wenn es denn stimmen würde. Das Dumme für
Patty ist nur, dass er sie nicht geheiratet hat, obwohl, sondern gerade weil
sie so ist, wie sie ist. Nette Menschen verlieben sich nicht notgedrungen in
nette Menschen.
Für die
Verteidigung: Zu behaupten, dass sie ihn nicht liebt, ist unfair!
Für die
Anklage: Wenn sie sich nicht benehmen kann, spielt es keine Rolle, ob sie ihn
liebt oder nicht.
Walter
wusste, dass Patty die Reifen des grässlichen Trucks ihres grässlichen Nachbarn zerstochen hatte. Sie sprachen nie darüber,
aber er wusste es. Eben weil sie nie darüber sprachen, wusste sie, dass er es
wusste. Der Nachbar, Blake, war dabei, auf der Rückseite des Hauses seiner
grässlichen Freundin, der grässlichen Mutter von Connie Monaghan, einen grässlichen Anbau zusammenzuzimmern, und Patty ließ
es sich in jenem Winter geraten sein, jeden Abend eine Flasche oder mehr Wein
zu trinken, um dann mitten in der Nacht vor Angst und Wut schweißgebadet
aufzuwachen und mit dem hämmernden Herzen einer Wahnsinnigen durchs Erdgeschoss
zu pirschen. Blake legte eine dumme Selbstgefälligkeit an den Tag, die sie in
ihrem Zustand des Schlafentzugs nicht nur mit der dummen Selbstgefälligkeit
jenes Sonderermittlers gleichsetzte, der Bill Clinton dazu gebracht hatte, in Sachen Monica Lewinsky zu lügen, sondern auch mit der
dummen Selbstgefälligkeit der Kongressmänner, die deshalb kürzlich ein
Amtsenthebungsverfahren gegen ihn angestrengt hatten. Bill Clinton war einer
der seltenen Politiker, die Patty nicht scheinheilig vorkamen - die nicht vorgaben,
Herr Saubermann zu sein -, und sie war eine der Millionen amerikanischen
Frauen, die auf der Stelle mit ihm geschlafen hätten. Dem grässlichen Blake
die Reifen platt zu machen war noch der harmloseste der Schläge, die sie zur
Verteidigung ihres Präsidenten gern ausführen wollte. Was sie in keiner Weise
exkulpieren, sondern nur ein Licht auf ihren Geisteszustand werfen soll.
Ein
unmittelbareres Ärgernis war die Tatsache, dass Joey in jenem Winter so tat,
als bewunderte er Blake. Joey war zu klug, um Blake wirklich zu
bewundern, aber er machte gerade eine Phase der pubertären Rebellion durch und
musste, um Patty vor den Kopf zu stoßen, genau die Dinge mögen, die sie am
meisten hasste. Das hatte sie der tausend Fehler wegen, die ihr aus maßloser
Liebe zu ihm unterlaufen waren, wahrscheinlich verdient, aber so fühlte es sich
damals nicht an. Damals fühlte es sich an wie ein Peitschenhieb mitten ins
Gesicht. Und da sie bei verschiedenen Gelegenheiten, wenn Joey sie aus der
Reserve ihrer Selbstbeherrschung gelockt und zum Zurückschlagen verleitet
hatte, imstande gewesen war, ihm ungeheuerliche Gemeinheiten zu sagen, tat sie
nun ihr Bestes, ihren Schmerz und ihre Wut an Dritten auszulassen, bei denen es
weniger schlimm schien, also etwa an Blake und Walter.
Sie
glaubte nicht, dass sie Alkoholikerin war. Sie war keine Alkoholikerin. Sie
wurde wohl nur allmählich wie ihr Vater, der seiner Familie von Zeit zu Zeit
entfloh, indem er zu viel trank. Früher einmal hatte Walter es sogar schön gefunden,
dass sie gern ein, zwei Gläser Wein trank, nachdem sie die Kinder ins Bett
gebracht hatte. Damals in seinem Elternhaus, sagte er zu Patty, sei ihm vom
Alkoholgeruch immer schlecht geworden, aber wenn ihr Atem nach Alkohol
rieche, habe er es verzeihen und lieben gelernt, denn er liebe ihren Atem, weil
ihr Atem
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