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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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auf den See. Richard würde dafür dreißig Dollar die Stunde
bekommen, plus Strom und Heizung umsonst, und könnte nach seinem eigenen
Rhythmus arbeiten. Und Richard, der ganz tief unten war und (wie er Patty
später, in anrührender Offenherzigkeit, gestand) die Berglunds mittlerweile
als das Familienähnlichste ansah, was er hatte, brauchte nur einen Tag Bedenkzeit,
bevor er das Angebot annahm. Für Walter war seine Zusage eine weitere süße
Bestätigung dafür, dass er Richard wirklich etwas bedeutete. Für Patty, nun ja,
war das Timing riskant.
    Richard
kam mit seinem überladenen alten Toyota-Pick-up auf dem Weg nach Norden in St.
Paul vorbei und blieb für eine Nacht. Patty hatte, als er um drei Uhr am
Nachmittag vorfuhr, schon eine Flasche am Wickel und machte ihre Sache als
Gastgeberin gar nicht gut. Walter übernahm das Kochen, während Patty für die
beiden Männer mittrank. Es war, als hätten sie und Walter nur darauf gewartet,
ihren alten Freund wiederzusehen, damit sie ihre gegensätzlichen Erklärungen
dafür loswerden konnten, warum Joey, anstatt mit ihnen zusammen zu essen,
nebenan mit einem rechtsgerichteten Deppen Air-Hockey spielte. Richard ging,
ziemlich perplex, regelmäßig nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen und
sich für die nächste Runde Berglund'scher Angespanntheiten zu wappnen.
    «Das wird
schon alles wieder», sagte er einmal, als er wieder hereinkam. «Ihr seid tolle
Eltern. Es ist bloß - na ja, wenn ein Kind eine starke Persönlichkeit hat, dann
können sich eben große Selbstfindungsdramen abspielen. So etwas braucht Zeit.»
    «Mein
Gott», sagte Patty. «Wo hast du denn die Weisheit
her?»
    «Richard
ist einer dieser sonderbaren Menschen, die tatsächlich noch Bücher lesen und
über vieles nachdenken», sagte Walter.
    «Ja,
anders als ich, schon klar.» Sie wandte sich Richard zu. «Ab und zu kommt es
vor, dass ich nicht jedes einzelne Buch lese, das er mir empfiehlt. Manchmal
beschließe ich einfach, eins - auszulassen. Ich glaube, davon ist hier
zwischen den Zeilen die Rede. Von meinem unterdurchschnittlichen Intellekt.»
    Richard
sah sie scharf an. «Du solltest mit dem Trinken aufpassen», sagte er.
    Er hätte
sie genauso gut auf den Solarplexus boxen können. Während Walters Missbilligung
ihr schlechtes Benehmen noch beförderte, hatte die von Richard den Effekt, das
Kindische an ihrem Verhalten zu entlarven und ihre Unattraktivität ans
Tageslicht zu zerren.
    «Patty
leidet im Moment sehr», sagte Walter ruhig, wie um Ri chard zu warnen, dass er, wie unerklärlich das auch sein mochte, immer noch
auf ihrer Seite war.
    «Von mir
aus kannst du so viel trinken, wie du willst», sagte Richard. «Ich meine nur -
wenn ihr wollt, dass euer Kind wieder zu euch zurückkommt, könnte es helfen,
mal vor der eigenen Haustür zu kehren.»
    «Im
Augenblick bin ich mir gar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt wieder hierhaben
will», sagte Walter. «Irgendwie genieße ich die Verschnaufpause von seiner
ständigen Verächtlichkeit.»
    «Also,
dann wollen wir doch mal sehen», sagte Patty. «Selbstfindung für Joey, eine
Verschnaufpause für Walter, und für Patty? Was bekommt Patty? Wein, nehme ich
an. Richtig? Patty bekommt Wein.»
    «Mannomann»,
sagte Richard. «Höre ich da so was wie Selbstmitleid heraus?»
    «Herrgott
nochmal», sagte Walter.
    Es war
schrecklich zu sehen, mit Richards Augen, was aus ihr geworden war. Aus der
Entfernung von zweitausend Kilometern war es ein Leichtes gewesen, Richards
Liebesnöte, seine ewige Pubertät, seine gescheiterten Versuche, nicht mehr so
kindisch zu sein, zu belächeln und sich einzubilden, hier, in Ramsey Hill, werde ein vernünftigeres Leben geführt. Aber kaum war er bei
ihnen in der Küche - seine Größe wie immer eine atemberaubende Überraschung für
sie, seine Gaddafi-Züge verwittert und tiefer in sein Gesicht gegraben, seine
Masse dunklen Haars ausgesprochen ansehnlich ergrauend -, machte er ihr klar,
was für ein selbstbezogenes kleines Kind sie, eingemauert in ihrem schönen
Haus, hatte bleiben können. Sie war vor ihrer babyhaften Familie weggelaufen,
nur um sich selbst wie ein großes Baby zu benehmen. Sie war nicht berufstätig,
ihre Kinder waren erwachsener als sie, sie hatte fast nie mehr Sex. Es war ihr
peinlich, so von ihm gesehen zu werden. All die Jahre hatte sie die Erinnerung
an ihre kleine Autotour wie einen Schatz gehütet, sie an einem sicheren Ort
tief in ihrem Inneren verwahrt, sie reifen lassen wie einen

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