Franzen, Jonathan
Wein, sodass, was
zwischen ihnen hätte passieren können, auf symbolische Weise lebendig geblieben
und mit ihnen beiden älter geworden war. Das Wesen des Möglichen veränderte
sich, während es in seiner luftdicht verschlossenen Flasche reifte, aber es
wurde nicht schlecht, es blieb potenziell trinkbar, war eine Art
Rückversicherung: Der ruchlose Richard Katz hatte sie einst aufgefordert, mit
ihm nach New York zu ziehen, und sie hatte nein gesagt. Und jetzt musste sie
einsehen, dass die Dinge so nicht funktionierten. Sie war zweiundvierzig und
trank sich eine rote Nase an.
Vorsichtig,
weil sie nicht schwanken wollte, stand sie auf und kippte eine halbgekillte
Flasche in den Ausguss. Sie stellte ihr leeres Glas ins Spülbecken und sagte,
sie werde jetzt nach oben gehen und sich eine Weile hinlegen, die Männer
sollten ruhig ohne sie essen.
«Patty»,
sagte Walter.
«Mir
geht's gut. Wirklich. Ich habe nur zu viel getrunken. Vielleicht komme ich
später nochmal runter. Es tut mir leid, Richard. Es ist so schön, dich zu
sehen. Ich bin bloß irgendwie neben der Spur.»
Obwohl sie
das Haus am See liebte und sich bisweilen für ganze Wochen allein dorthin
zurückgezogen hatte, fuhr sie in dem Frühjahr, als Richard es renovierte, kein
einziges Mal hin. Walter nahm sich die Zeit, mehrere verlängerte Wochenenden
mit Richard zu verbringen und ihm zur Hand zu gehen, aber Patty schämte sich zu
sehr. Sie blieb in der Barrier Street und
brachte sich in Form: befolgte Richards Rat, was das Trinken betraf, fing
wieder an zu joggen und zu essen, nahm genügend zu, um die tiefsten Falten in
ihrem ausgezehrten Gesicht aufzufüllen, ja sah überhaupt den Tatsachen ihrer
körperlichen Erscheinung ins Auge, die sie in ihrer Phantasiewelt nicht hatte
wahrnehmen wollen. Ein Grund, warum ihr eine Art Generalüberholung widerstrebt
hatte, war der, dass ihre hassenswerte Nachbarin Carol Monaghan sich einer solchen unterzogen hatte, sobald ihr hassenswerter
Lustknabe Blake auf der Bildfläche erschienen war. Alles, was Carol tat, war für sie per definitionem indiskutabel, aber in diesem Fall
erniedrigte sie sich und tat es ihr nach. Trennte sich von ihrem Pferdeschwanz,
ging zu einer Coloristin, ließ sich einen altersgemäßen Haarschnitt verpassen.
Sie gab sich Mühe, ihre alten Basketball-Freundinnen häufiger zu treffen, die
sie damit belohnten, dass sie ihr sagten, sie sehe wesentlich besser aus.
Richard
hatte eigentlich spätestens Ende Mai wieder an die Ostküste zurückkehren
wollen, aber da er nun einmal Richard war, arbeitete er Mitte Juni, als Patty
hinauffuhr, um ein paar Wochen am See zu verbringen, immer noch an der
Holzterrasse. Walter kam für die ersten vier Tage mit und wollte dann weiter zu
einer VIP-Angeltour, zu der ein wichtiger Nature-Conservancy-Sponsor in sein luxuriöses
«Camp» in Saskatchewan eingeladen
hatte - eine treffliche Gelegenheit, den Geldbaum zu schütteln. Um ihren
kümmerlichen Auftritt im Winter wettzumachen, war Patty im Haus am See ein
Wirbelwind der Gastfreundschaft und kochte die großartigsten Mahlzeiten für
Walter und Richard, die im Garten hämmerten und sägten. Sie war stolz darauf,
dass sie die ganze Zeit nüchtern blieb. An den Abenden hatte sie, da Joey nicht
da war, keine Lust, den Fernseher einzuschalten. Stattdessen saß sie in Dorothys Lieblingssessel und las, während die Männer Schach spielten, auf
Walters seit langem bestehende Empfehlung hin Krieg und
Frieden. Zum Glück für alle Beteiligten war Walter besser im Schach
als Richard und gewann meistens, aber Richard war hartnäckig und wollte immer
noch eine Revanche, und Patty wusste, dass er Walter damit zusetzte - dass
Walter sich enorm anstrengen musste, um zu gewinnen, sich dabei regelrecht
hochschraubte und später Stunden brauchen würde, um einzuschlafen.
«Schon
wieder diese Scheißverklumpung im Zentrum», sagte Richard. «Du stellst immer
das Zentrum zu. Ich hasse das.»
«Ich bin
der Zentrumverklumper», bestätigte Walter, kurzatmig vor unterdrücktem
Frohlocken.
«Das macht
mich wahnsinnig.»
«Tja, weil
es wirkungsvoll ist», sagte Walter.
«Es ist
bloß wirkungsvoll, weil ich nicht genügend Disziplin habe, dich dafür büßen zu
lassen.»
«Es ist
wirklich unterhaltsam, mit dir zu spielen. Ich weiß nie, was als Nächstes
kommt.»
«Ja, und
ich verliere andauernd.»
Die Tage
waren sonnig und lang, die Nächte überraschend kühl. Patty liebte den
Frühsommer im Norden, er versetzte sie in die
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