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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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die er nicht mehr aus seinem kleinen Kopf bekam.
    Wie ihr
zumute war: als hätte sich im Schutz der Dunkelheit ihres Verstandes eine
skrupellose, gutorganisierte Gruppe von Widerstandskämpfern zusammengerottet,
weshalb es dringend geboten war, das Scheinwerferlicht ihres
Bewusstseins nicht in deren Nähe kommen zu lassen, und sei es nur für eine
Sekunde. Ihre Liebe zu Walter und ihre Loyalität ihm gegenüber, ihr Wunsch, ein
guter Mensch zu sein, ihr Wissen um Walters lebenslangen Konkurrenzkampf mit
Richard, ihre nüchterne Einschätzung von Richards Charakter und einfach das
rundum Beschissene daran, mit dem besten Freund des eigenen Ehepartners zu
schlafen: diese hehren Gedanken standen bereit, um die Widerstandskämpfer zu
vernichten. Und deshalb musste sie dafür sorgen, dass die Streitkräfte ihres
Bewusstseins permanent abgelenkt wurden. Sie durfte sich noch nicht einmal
erlauben, darüber nachzudenken, was sie anziehen sollte - musste die
Überlegung, ein bestimmtes schmeichelhaftes ärmelloses Teil überzustreifen,
bevor sie Richard einen Vormittagskaffee und Kekse hinausbrachte, augenblicklich
abwehren, ja regelrecht wegschnippen -, denn die geringste Andeutung eines normalen
Flirts würde augenblicklich den Suchscheinwerfer aktivieren, und das
Schauspiel, das dann ausgeleuchtet würde, wäre einfach zu ekelhaft, zu
beschämend, zu jämmerlich. Selbst wenn Richard nicht davon angewidert wäre, sie
selbst wäre es. Und falls er es bemerken und sie darauf ansprechen würde, so
wie er sie auf ihr Trinken angesprochen hatte: Desaster, Demütigung, der GAU.
    Ihr Puls
dagegen wusste - und bedeutete es ihr mit seinem Rasen -, dass sie
wahrscheinlich nie wieder eine Chance haben würde wie diese. Nicht bevor sie
ihre beste Zeit, in körperlicher Hinsicht, ganz und gar hinter sich hätte. Ihr
Puls registrierte ihre klare, versteckte Erkenntnis, dass das Angelcamp in Saskatchewan nur mit Doppeldeckerflugzeug, Funk- oder Satellitentelefon zu
erreichen war und Walter sie in den nächsten fünf Tagen höchstens im Notfall
anrufen würde.
    Sie
stellte Richard das Mittagessen auf den Tisch und fuhr in die nahe gelegene
kleine Stadt Fen City. Wie
leicht sie einen Verkehrsunfall haben könnte, dachte sie und malte sich so
genau aus, wie sie dabei ums Leben kam und Walter sich schluchzend über ihren
verschandelten Körper beugte und Richard ihn stoisch tröstete, dass sie
beinahe das einzige Stoppschild in Fen City
überfahren hätte; dumpf hörte sie ihre Bremsen quietschen.
    Es war
alles in ihrem Kopf, es war alles in ihrem Kopf! Das Einzige, was ihr ein
bisschen Hoffnung machte, war die Tatsache, dass sie ihren inneren Aufruhr so
gut überspielte. Vielleicht war sie in den vergangenen vier Tagen ein wenig
zerstreut und unsicher gewesen, aber sie hatte sich unvergleichlich viel
besser aufgeführt als im Februar. Wenn sie selbst es schaffte, ihre dunklen
Mächte im Verborgenen zu halten, war es doch nicht ausgeschlossen, dass
Richard mit ebensolchen dunklen Mächten zu kämpfen hatte, die er genauso gut
verbarg wie sie. Aber das war nun wirklich ein winziger Hoffnungsschimmer; so
argumentierten Geisteskranke, die sich in ihre Wahnvorstellungen verstiegen.
    Im Coop von Fen City stand
sie vor der mickrigen Auswahl heimischer Biere, den Millers, Coors' und
Budweisers, und versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Hielt ein Sixpack in
der Hand, als könnte sie im Voraus, durch das Aluminium der Dosen hindurch,
beurteilen, wie es ihr gehen würde, wenn sie das Bier trank. Richard hatte ihr
gesagt, sie solle mit dem Trinken aufpassen; betrunken hatte er sie abstoßend
gefunden. Sie stellte das Sixpack wieder ins Regal und riss sich los, um
weniger attraktive Abteilungen des Ladens anzusteuern, aber es war schwer, ein
Abendessen zu planen, wenn einem speiübel war. Sie kehrte zu den Bierregalen
zurück wie ein Vogel, der immer dieselbe Melodie singt. Die diversen Bierdosen
waren verschieden gestaltet, dabei enthielten sie alle das gleiche dünne,
minderwertige Gebräu. Ihr kam der Gedanke, dass sie nach Grand Rapids fahren und anständigen Wein kaufen könnte. Ihr kam auch der Gedanke,
dass sie zum Haus zurückfahren könnte, ohne überhaupt etwas gekauft zu haben.
Aber was wäre dann? Eine Müdigkeit befiel sie, als sie so dastand und
schwankte: eine Vorahnung, dass nichts von dem, was nun geschehen mochte, ihr
genügend Erleichterung oder Freude verschaffen würde, um ihr gegenwärtiges,
von Herzrasen begleitetes Elend

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