Franziskus, der neue Papst (German Edition)
dass Papst Franziskus nicht nur mit Wünschen und Hoffnungen konfrontiert werden wird, sondern auch mit unterschiedlichen Haltungen innerhalb seiner Kirche. Dazu gehören die Themen der Sexualmoral, Fragen der medizinischen Ethik, die Diskussion um Aids. Die Lehre der Kirche ist in diesen Bereichen nicht, wie oft dargestellt, pure Willkür. Normen müssen sich auf einen Wert beziehen und diesen schützen, ansonsten verlieren sie ihre Berechtigung. Das Problem ist, dass manche der kirchlichen Normen nicht mehr einem Wert zugeordnet werden können. Die Kirche muss nicht und darf nicht dem Zeitgeist hinterherrennen, wie eine gängige Formel sagt. Das bedeutet indes nicht, dass die Kirche immer und grundsätzlich Opposition sein muss. Wenn die kirchliche Lehre in Fragen der Verhütung besonders im Kontext von Aids einerseits Ausnahmen einräumt und andererseits die kirchliche Praxis sich ohnehin längst von der Lehre entfernt hat, muss das neu gedacht werden. Nicht im Sinne, dass die Lehre grundsätzlich der Praxis angeglichen wird. Das wäre der klassische Sein-Sollen-Fehlschluss: Aus der Tatsache, dass etwas so ist, folgt noch lange nicht, dass es auch so sein soll. Nur weil etwas gemacht wird, ist es noch nicht gut so. Trotzdem kann sich die Kirche und somit der neue Papst den Fragen nicht verschließen und sie muss aushalten, dass es selten Antworten gibt, die jeden zufriedenstellen. Das mag nach einem Gemeinplatz klingen und ist es. Jedoch einer, der die Kirche konkret herausfordert und damit ihr Oberhaupt. Franziskus wird Antworten geben müssen. Er hat dazu viele Möglichkeiten und Kanäle, wie die Interview-Bände von Benedikt XVI. bewiesen haben. Nicht zuletzt darf eines nicht vergessen werden: Bei all dem Gesagten handelt es sich um das Müssen und Sollen, das aus einer bestimmten Perspektive heraus formuliert wird. Ob Franziskus diese Perspektive teilt, wird sich zeigen. Er wird den Vertrauensvorschuss benötigen, den jeder neue Amtsinhaber benötigt, um zu gestalten. Zugleich weiß man im Vatikan längst, dass die alte Devise »Roma locuta, causa finita« nicht mehr einfach so gültig ist. Nicht jeder Fall ist automatisch deshalb beendet, weil Rom gesprochen hat. Letztlich gilt vielmehr, und das nicht als Ausrede, was Benedikt XVI. kurz nach seinem Amtseintritt formulierte: »Ich möchte auch sagen, dass der Papst kein Orakel und – wie wir wissen – nur in den seltensten Fällen unfehlbar ist. Ich teile nämlich mit euch diese Fragen, diese Probleme. Ich leide auch. Aber wir wollen alle zusammen einerseits diese Probleme erleiden und auch, indem wir leiden, diese Probleme umwandeln, denn gerade das Leiden ist der Weg der Verwandlung, und ohne Leiden verändert sich nichts.«
WUNDEN HEILEN – DIE MISSBRAUCHSFÄLLE IN DER KATHOLISCHEN KIRCHE
Am Ende hatte es Keith Michael Patrick O’Brien eingesehen. Der Kardinal legte sein Amt als Erzbischof von Saint Andrews und Edinburgh nieder und verzichtete auch auf seine Teilnahme am Konklave. Zuvor waren massive Vorwürfe laut geworden, O’Brien habe sich Priesteramtskandidaten in »unangemessener Art und Weise« genähert. Um die Suche nach dem neuen Oberhaupt der Kirche nicht mit Negativschlagzeilen zu überschatten, verzichtete der Schotte auf die Reise nach Rom. Vor dem Konklave, aus dem letztlich Franziskus als Nachfolger Petri hervorging, wurde die Berichterstattung über sexuelle Beziehungen oder Übergriffe von Priestern merklich intensiviert. Nur um kein Missverständnisse aufkommen zu lassen: Diese Berichterstattung ist nicht nur richtig, sondern auch wichtig, zu lange haben kirchliche Kreise vergessen, dass ihre Loyalität den Geringsten gilt und nicht automatisch dem Amtsbruder. Der Bostoner Priester Robert Oliver, seit Dezember 2012 als »Förderer der Gerechtigkeit« bei der Glaubenskongregation so etwas wie der Missbrauchsbeauftragte, hat völlig zu Recht gesagt: »Die Medien erweisen uns einen großen Dienst. Sie helfen uns, die Energie aufrecht zu halten, damit wir ehrlich und transparent und mit all unserer Kraft uns dem stellen, was wahr ist.« Viele Vaticanisti (Vatikan-Journalisten – Anm. d. Autors) sahen in diesem Sinne die Entscheidung für oder gegen einen jeweiligen »Papabile« weniger entlang Länder- oder Ideologiegrenzen, sondern entlang der »Zero-Tolerance-Line« verlaufen. Klar war, dass nur ein Kandidat eine Chance haben würde, der in Sachen »Missbrauch« stets eine klare Linie gefahren hatte, gegen den natürlich nicht der
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