Franzosenliebchen
Kante und schob zuerst seine
Beine, dann den Rest des Körpers über den Mauerrand.
Für einen Moment verharrte er hängend, bereit, sich bei
dem geringsten Geräusch wieder nach oben zu ziehen. Dann
ließ er sich fallen. Ein trockener Zweig zerbrach mit einem
leisen Knacken. Der Mann erstarrte. Aber in dem gut dreißig
Meter entfernten Haus blieb alles
ruhig.
Geduckt huschte er
durch den Garten, bis er das Gebäude erreichte. Der Eingang
zum Keller war leicht zu finden. Fast lautlos lief er die Stufen
hinab. Wie erwartet, war die Tür verschlossen. Der Mann
tastete das Schloss ab und nickte beruhigt. Es war von einfacher
Machart. Wenn nicht der Schlüssel von innen steckte,
würde das Offnen keine Schwierigkeiten bereiten. Der Mann
griff in die Jackentasche, holte einen Dietrich hervor und
führte das Werkzeug ein. Er hatte Glück - kein
Schlüssel im Schloss. Langsam und konzentriert drehte der Mann
den gebogenen Stahldraht. Sekunden später vernahm er ein
leises Klacken. Die Tür war offen.
Darauf bedacht, kein
Geräusch zu verursachen, schob sich der Eindringling in das
Innere des Hauses. Der Mann lehnte die Tür an, horchte in die
Dunkelheit, riss schließlich ein Streichholz an und
ließ es für einen Moment aufleuchten, um sich zu
orientieren. Das abgebrannte Hölzchen verstaute er in seiner
Hosentasche. Sich mit der linken Hand an der Wand abstützend,
schlich der Mann den Gang entlang. Nach fünf Schritten hatte
er das Ende erreicht. Wieder ließ er den Schein eines
Streichholzes aufleuchten. Er wandte sich nach links und erreichte
eine Tür, die nicht verschlossen war. Auf raumhohen Regalen
lagerten hier Lebensmittel - ungeeignet für sein Vorhaben. Der
Mann nahm den nächsten Raum in Augenschein. In diesem standen
überall Kisten herum, dick mit Staub bedeckt. In einer Ecke
türmten sich Bündel gebundener Akten, die augenscheinlich
schon seit Jahren nicht mehr bewegt worden waren, und an einer Wand
waren mehrere alte Koffer übereinandergestapelt. Dieser Ort
war ideal.
Der Eindringling
entledigte sich seines Rucksackes, zog ein sorgfältig
verschnürtes Paket heraus und schob es unter die
Aktenstapel.
Zufrieden
verließ er den Raum, schloss die Tür sorgfältig
hinter sich und verriegelte den Kellereingang wieder. Als er die
frische Nachtluft einatmete, grinste er. Üblicherweise brach
er in Häuser ein, um daraus etwas zu entwenden. Einen Einbruch
zu begehen, um etwas hineinzuschmuggeln, war mal etwas anderes.
Aber was sollte er sich darüber den Kopf zerbrechen. Fünfzig Goldmark
waren in diesen Zeiten, in der täglich neues Papiergeld mit
immer mehr Nullen gedruckt wurde, ein Vermögen. Und wenn sein
Auftraggeber bereit war, so viel Geld zu bezahlen, dann sollte es
ihm nur recht sein.
10
Dienstag, 13. Februar
1923
Das
fünfstöckige Wohnhaus, in dem Goldsteins Dienststelle
untergebracht war, befand sich ganz in der Nähe der
Fischerinsel. Die Büros lagen in der ersten Etage, direkt
über den Räumlichkeiten einer Anwaltssozietät. Nur
ein kleines Emailleschild neben der Eingangstür wies auf die
Außenstelle der Landeskriminalpolizeistelle Berlin hin,
zuständig für Einbrüche in Hotels, Kirchen und
Museen.
Goldstein war der
zweiten Abteilung zugeordnet, die sich mit Museumseinbrüchen
befasste. Er übte eine reine Bürotätigkeit aus,
musste Nachrichten sammeln, katalogisieren und auswerten. Eine
wenig aufregende Arbeit und er hatte es sich abgewöhnt,
darüber nachzudenken, ob die Informationen, die er
zusammenstellte, irgendwen interessierten oder ob sie lediglich in
einer Ablage landeten.
Viel zu früh
machte er sich auf den Weg zu Kriminalrat Sander. Der
Alexanderplatz war zwar nur einige Minuten entfernt, aber Goldstein
hasste es, sich zu verspäten. Wie erwartet, erreichte er das
Polizeipräsidium dreißig Minuten vor der Zeit. Goldstein
schlenderte auf und ab und versuchte, seine Nerven unter Kontrolle
zu bekommen.
Das mit hellroten
Ziegeln verblendete Polizeipräsidium wurde im Volksmund auch
Rote Burg genannt. In der Tat ähnelte es einer
mittelalterlichen Befestigungsanlage: Türme an den Ecken, hohe
Rundbogenfenster und ein breites Hauptportal.
Endlich war es an der
Zeit. Goldstein meldete sich beim Empfang, präsentierte seinen
Dienstausweis und wurde angewiesen, sich im zweiten Stock
westwärts zu wenden. Sanders Büroräume befänden
sich im übernächsten Querflügel.
Die Tür zu
Sanders Vorzimmer stand halb offen. Goldstein fröstelte und
schwitzte
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