Franzosenliebchen
flüchtigen Blick auf das
Papier. »Was machen Sie um diese Zeit hier? Der nächste
Zug geht erst in zwei Stunden.«
»Ich
weiß«, log Goldstein. »Aber ich bin nicht hier,
um fortzufahren, sondern um etwas zu suchen, was ich gestern oder
vorgestern verloren habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auf
diesem Bahnsteig gewesen ist, weiß es aber natürlich
nicht genau. Deshalb suche ich nun an allen möglichen
Stellen.«
»Ah, oui. Was
haben Sie verloren?«
Goldstein öffnete
seinen Musterkoffer. »Sehen Sie, ich vertreibe Eisenwaren.
Ich vermisse einen Satz Spezialschrauben. Sie waren in einem
kleinen Kästchen verstaut.« Er spreizte seine Finger.
»Das Behältnis ist etwa so groß.«
»Ich habe nichts
gefunden.«
»Schade.
Vielleicht einer Ihrer Kameraden?«
»Das weiß
ich nicht. Aber ich wurde erst gestern hierher abkommandiert. Wie
kommt es, dass Sie unsere Sprache so perfekt
beherrschen?«
»Meine Mutter
war Französin.«
»War?«
»Sie ist
während des Krieges gestorben. In den ersten Kriegswochen. Wir
lebten im Grenzgebiet. Eine Granate hat ihr Ziel verfehlt, Sie
verstehen?«
»Eine von
uns?«
»Nein. Die
Deutschen haben sie abgefeuert.«
Der Franzose dachte
einen Moment nach. »Wenn meine Mutter von meinen eigenen
Landsleuten umgebracht worden wäre …«
»Es war ein
Unfall.«
»Trotzdem. Warum
sind Sie noch hier und leben nicht in Frankreich? Oder sonst
wo?«
Goldstein versuchte,
ein zerknirschtes Gesicht zu machen. »Die Liebe. Meine
Freundin ist Deutsche. Sie will bei ihren kranken Eltern bleiben.
Sonst wären wir schon längst von hier
fort.«
Der Soldat nickte
verstehend.
»Wenn ich mich
bei Ihren Kameraden nach meinen Schrauben erkundigen will, an wen
müsste ich mich wenden?«
»Wir sind alle
vom Infanterieregiment 147 und haben unsere Quartiere in der
Gaststätte Nagel. Aber da wird Sie vermutlich niemand
hereinlassen.« Der Soldat sah sich um und senkte seine Stimme. »In der
Wilhelmstraße gibt es ein kleines Lokal. Das heißt Zum
Fässchen. Dort treffen sich Mannschaften und untere
Dienstgrade, wenn sie Ausgang haben. Offiziell ist es uns zwar
nicht gestattet, das Lokal zu besuchen, da dort auch Deutsche
verkehren. Hauptsächlich Frauen.« Er zwinkerte
verschmitzt. »Aber die meisten unserer Offiziere tolerieren
das. Schließlich müssen wir auch etwas Spaß haben,
oder? Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass jemand Ihre
Schrauben gefunden und aufbewahrt hat, aber wer weiß.
Vielleicht haben Sie ja Glück.«
»Vielen Dank,
Kamerad. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
Goldstein
verabschiedete sich freundlich und schlenderte davon. Also Zum
Fässchen. Wenn er wieder flüssig war, würde er dort
ein Bier trinken.
23
Mittwoch, 21. Februar
1923
Die halb verfallene
Hütte war von wilden Holunderbüschen umgeben. Das
Unterholz stand so dicht, dass es trotz der kahlen Äste kaum
Blicke durchließ. Der Nebel hatte sich den ganzen Tag
über nicht aufgelöst und trug dazu bei, dass selbst
Saborski, der die Gegend rund um das alte Wasserschloss in
Bladenhorst wie seine Westentasche kannte, Schwierigkeiten hatte,
den Treffpunkt auf Anhieb zu finden.
Adolf Schneider betrat
als Letzter den Verschlag, neben dem Rucksack auch noch einen prall
gefüllten Beutel schleppend.
»Was hast du
denn da drin?«, flüsterte Saborski.
»Lehm«,
antwortete Schneider ebenfalls mit leiser Stimme.
»Lehm?«
»Ja. Um den
Druck zu lenken.«
Saborskis war
anzusehen, dass er kein Wort von dem verstand, was ihm Schneider
erklärte.
»Der
Explosionsdruck geht immer den Weg des geringsten Widerstandes.
Wenn es sich nicht um sehr große Sprengstoffmengen handelt,
kann es sein, dass die Explosion wirkungslos verpufft. Deshalb der
Lehm. Ich werde damit versuchen, den Druck in eine bestimmte
Richtung zu lenken.«
Kalle Soltau griff in
seine Jackentasche, klaubte eine Zigarettenschachtel hervor und
wollte sich eine Kippe anzünden, da fiel sein Blick auf den
mit Sprengstoff gefüllten Rucksack. Schnell schob er Schachtel
und Zündhölzer zurück.
»Und das
funktioniert?« Wilfried Saborski suchte die Taschen seines
Mantels ab und sagte dann: »Alfred, gib mir doch bitte eine
Zigarette.«
Schneider kam dem
Wunsch nach. »Sollte es zumindest. Ich habe mir die
Brücke genauer angesehen. Zwischen dem Brückenaufleger
und dem Gleitlager auf beiden Seiten ist ein Spalt, gerade breit
genug, um das Donarit darin zu verstauen.« Er gab Saborski
Feuer, argwöhnisch beäugt von Soltau, der bis an
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