Franzosenliebchen
eben noch mit dem Pförtner unterhalten
hatten, nun aber den gleichen Weg einschlugen, schenkte er keine
Beachtung. Fünf Minuten später hatte er die Zechenmauer
hinter sich gelassen und die letzten Siedlungshäuser passiert.
Er beschloss zurückzugehen, vielleicht war Martha inzwischen
zu Hause eingetroffen.
Goldstein drehte sich
um. Er sah noch, wie einer der Männer, die ihm gefolgt waren,
einen Satz nach vorn machte, einen starken Knüppel hoch
erhoben in beiden Händen, und wollte schützend die Arme
vor sein Gesicht ziehen. Zu spät. Der Schlag traf ihn mit
aller Wucht am Kopf.
34
Freitag, 2. März
1923
Wieder hatte er nur
zwei oder drei Stunden geschlafen, nicht anders als in den
vorherigen langen Nächten. Angst beherrschte sein Denken:
Angst um seine Frau, Angst vor der Zukunft, Angst um sein Leben.
Das immer häufiger auftretende Stechen in seiner Brust
verstärkte diese Gefühle noch.
In
unregelmäßigen Abständen holten ihn die Franzosen
zum Verhör. Auch davor hatte er Angst. Wie lange konnte er dem
Druck noch standhalten? Wann würde er ein Geständnis
ablegen und die Unwahrheit sagen, nur um endlich Ruhe zu
haben?
Er zuckte jedes Mal
zusammen, wenn sich Stiefeltritte seiner Zelle näherten,
erschrak bis ins Mark, wenn sich der Schlüssel in der Tür
drehte und er durch lange Gänge zum Verhör gezerrt wurde.
Im Verhörzimmer dann traktierten ihn drei, vier Offiziere mit
immer denselben Fragen: Woher hatten Sie den Sprengstoff? Haben Sie
die Sprengung selbst gezündet? Wer hat Ihnen geholfen? Wer hat
Ihnen den Auftrag zu dem Attentat erteilt? Wer sind die
Hintermänner? Wurden Sie für die Tat bezahlt? Welcher
Widerstandsgruppe gehören Sie an?
Abraham Schafenbrinck
wälzte sich von seiner Pritsche und schleppte sich zum Eimer,
um seine Notdurft zu verrichten. Anschließend reinigte er
sich, so gut es ging, mit Zeitungspapier. Als er den Deckel
zurück auf den Emailleeimer legen wollte, wurde ihm
speiübel. Hustend und würgend erbrach er die Reste des
kargen Essens, das ihm am Abend zuvor hingestellt worden war. Sein
Körper krampfte im Brechreiz, Sterne tanzten vor seinen
Augen.
Es dauerte Minuten,
bis der Anfall vorbei war. Er machte sich daran, das Erbrochene zu
beseitigen. Der säuerliche Geruch des Erbrochenen mischte sich
mit dem seiner Exkremente.
Als Schafenbrinck das
letzte Stück Papier verbraucht und in den Eimer geworfen
hatte, war der Boden immer noch nicht sauber. Schafenbrinck kippte
das Waschwasser, das in der Blechschüssel auf dem wackeligen
Tisch gestanden hatte, über den Boden, griff zu seinem
Unterhemd und wischte voller Verzweiflung über die Stelle, an
der er sich hatte übergeben
müssen.
Tränen der Wut
und des Abscheus liefen über sein unrasiertes Gesicht.
Verzweifelt rappelte er sich hoch und trommelte erst zaghaft, dann
immer heftiger gegen die Zellentür, bis seine Fingerknochen
blutig waren.
»Lasst mich
raus!«, schrie er verzweifelt. »Lasst mich bitte raus.
Ich habe doch nichts getan.«
Sein Flehen verhallte
ungehört, ging in ein unkontrolliertes Schluchzen über.
Langsam rutschte der Kaufmann auf den Zellenboden und rollte sich
zusammen, hemmungslos weinend.
Schafenbrinck hatte
jedes Zeitgefühl verloren, als er sich endlich zurück zu
seiner Pritsche schleppte. Er ließ sich auf den Rücken
fallen und stierte aus weit aufgerissenen Augen an die weiß
gekalkte Decke. Zum wiederholten Mal stellte er sich die Fragen,
auf die er keine Antwort fand. Warum er? Warum hatten die Franzosen
den Sprengstoff ausgerechnet in seinem Keller platziert? Denn daran
hatte er keinen Zweifel: Niemand aus seinem Haus oder seinem
Umfeld, die Hausangestellten eingeschlossen, waren dafür
verantwortlich, dass die Franzosen Sprengstoff in seinem Keller
gefunden hatten. Es konnten nur die Besatzer selbst gewesen sein,
die ihm das angetan hatten. Aber, verdammt noch mal,
warum?
Er hörte sich
nähernde Schritte. Sie holten ihn einmal mehr zum Verhör.
Eilig richtete er sich auf. Seine Peiniger sollten ihn so nicht
sehen, so verzweifelt. Aufrecht würde er den Feind empfangen,
mit offenem Blick, selbstbewusst, stolz und unbeugsam. Deutsch
eben.
Als er sich erhob, um
sich gerade hinzustellen, zuckte ein schrecklicher Schmerz durch
seine linke Brusthälfte. Instinktiv griff er mit der rechten
Hand an die Herzgegend, krümmte sich. Dann stürzte er und
riss dabei den Fäkalieneimer um. Der Inhalt ergoss sich
über den Boden und den Kaufmann. Doch das bekam
Weitere Kostenlose Bücher