Franzosenliebchen
stand wieder ganz
am Anfang seiner Ermittlungen.
»Sie gehen
zurück nach Frankreich, habe ich
gehört?«
»Ja. Am Samstag.
Aber ich komme wieder. Irgendwann, wenn wirklich Frieden herrscht.
Ich will wenigstens ein einziges Mal an Agnes’ Grab
stehen.« Solles Stimme wurde fast unhörbar. »Und
ich möchte mit ihren Eltern sprechen. Ihnen alles
erklären.« Der Franzose begrub das Gesicht in seinen
Händen.
Goldstein stand auf,
klopfte dem Soldaten fast zärtlich auf die Schulter und
ließ ihn mit seinem Schmerz allein in der Kirche
zurück.
Eine Stunde
später hockte Goldstein in seiner Kammer auf der Holzliege und
versuchte, seine Gedanken dadurch zu ordnen, dass er sie auf
kleinen Notizzetteln festhielt. Sollé war also nicht der Täter.
Natürlich war nicht auszuschließen, dass ein anderer
französischer Soldat die junge Frau ermordet hatte. Aber war
das wahrscheinlich? Würde der sein Opfer ausgerechnet am Rand
dieser Arbeitersiedlung suchen? Vermutlich nicht. Aber wer kam
sonst infrage? Goldstein schrieb Familie, Freunde, Bekannte und
malte um die drei Wörter einen großen Kreis und daneben
ein Ausrufezeichen. Dass die Täter oft aus dem näheren
Umfeld des Opfers stammten, war allgemein bekannt.
Die entscheidende
Frage war die nach dem Motiv. Warum brachte ein Mensch einen
anderen um?
Der Polizist schrieb
Habgier auf ein Blatt und betrachtete das Geschriebene einen Moment
lang. Die Akten besagten eindeutig, dass der Toten kein Geld
gestohlen worden war. Nur Ring und Kette fehlten. Den Ring hatte
das Mädchen Julian Solle geschenkt. Wo die Kette war, war
weiterhin ungeklärt. Aber würde jemand für eine
Kette, die keinen hohen Wert besitzen konnte, eine junge Frau
ermorden? Das konnte er sich nicht vorstellen. Goldstein strich das
Wort wieder durch. Nein, Habgier schloss er aus.
Was war mit sexueller
Begierde? Das wäre ein Motiv auch für einen
französischen Soldaten. Wenn er sich recht erinnerte, stand im
Untersuchungsbericht, dass die Leiche vollständig bekleidet
aufgefunden worden war. Auch die Ergebnisse der
gerichtsmedizinischen Untersuchung waren in dieser Hinsicht
eindeutig gewesen: keine sexuelle Gewalt. Goldstein fielen seine
eigenen Worte wieder ein, die er Martha gegenüber gebraucht
hatte: »Und dann hat er sie aus gekränkter Eitelkeit
oder sexueller Begierde erwürgt.« Gekränkte
Eitelkeit, ja, vielleicht. Sexuelle Begierde? Trotz der fehlenden
Indizien nicht auszuschließen. Goldstein notierte
beides.
Eifersucht,
natürlich. Das tragende Motiv vieler klassischer Dramen. Hatte
Agnes Treppmann einen weiteren, einen heimlichen Verehrer gehabt?
Jemand, der vielleicht sogar hinter das Geheimnis ihrer Liaison mit
Solle gekommen war, allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz?
Eifersucht. Goldstein unterstrich das Wort mehrmals.
Und was war mit Hass?
Hatte sich die junge Frau jemanden so zum Feind gemacht, dass
denjenigen die Mordlust übermannt hatte? Der Polizist
kritzelte Hass auf ein Stück Papier.
Minutenlang starrte er
auf seine kleine Blattsammlung: Gekränkte Eitelkeit, sexuelle
Begierde, Eifersucht, Hass. Was war das Mordmotiv? Goldstein
seufzte. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Aber
vielleicht regte etwas frische Luft ja seine Gedanken an. Er
beschloss, noch eine Runde spazieren zu gehen.
Im Gegensatz zu den
zurückliegenden Tagen war es heute ungewöhnlich mild.
Deshalb verzichtete Goldstein auf seinen Mantel, streifte sich nur
die Jacke über und trat auf die Straße. Der Wind blies
aus Nordost, über die Zeche Teutoburgia hinweg. Die Luft
schmeckte nach Kohle. An der Schadeburgstraße angekommen,
wandte sich Goldstein nach rechts. Nach wenigen Metern erreichte er
das Eingangstor der Zeche. Für einen Moment blieb er
stehen.
Das Tor lag einige
Meter von der Straße zurück und bestand aus drei Teilen.
In der Mitte eine große Durchfahrt, flankiert von zwei
kleineren Eingängen. Nur das rechte, kleinere Tor war
geöffnet. Schmiedeeiserne Gitter versperrten die anderen
Durchgänge. Ein Fenster war erleuchtet, vermutlich befand sich
dahinter das Pförtnerbüro. Im Durchgang stand eine Gruppe
Männer, die in ein Gespräch vertieft schienen. Einige
rauchten. Weiter hinten auf dem Werksgelände patrouillierte
eine französische Doppelstreife. Rechts in der Zufahrt parkte
ein Fahrzeug der Marke Adler.
Über den Toren
stand in hervorgehobenen Buchstaben: Zeche Teutoburgia.
Goldstein schlenderte
an der großen Ziegelmauer vorbei, weiter Richtung Osten. Den
Männern, die sich
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