Franzosenliebchen
grußlos das Haus.
Auf der anderen
Straßenseite entdeckte er Lisbeth. Für einen Moment
zögerte er, dann ging er zu ihr hinüber. Warum sollte er
sich jetzt noch tarnen?
»Ich habe auf
Sie gewartet«, raunte ihm das Mädchen zu. »Ich
habe Sie an unserem Haus vorbeilaufen sehen und bin Ihnen gefolgt.
Sollen wir uns wieder in der Ruine treffen?«
»Ich glaube,
dass wird nicht mehr nötig sein. Warum hast du nicht einfach
bei Suttkowskis geklopft? Du kennst eure Nachbarn doch
gut.«
»Das schon. Aber
meine Familie redet eigentlich nicht mehr mit
denen.«
»Und warum
nicht?«
»Die Ilse
tratscht. Und jetzt, seit Agnes tot ist …«
»Ja?«
»Ach, sie hat
ihr alle möglichen Affären angedichtet. Allerdings nicht
nur ihr. Auch Martha. Und anderen Nachbarsfrauen. Niemand ist vor
ihrer spitzen Zunge sicher.«
»Affären?
Was hat sie denn Agnes für eine Affäre
angedichtet?«
»Wilhelm zum
Beispiel.«
»Du sagst zum
Beispiel. Gab es noch jemanden?«
»Ach, sie hat
eben schlecht geredet. Agnes hat immer gesagt, Ilse sei eine
Krauthacke. Nur mir hat sie noch kein Verhältnis
unterstellt«, setzte Lisbeth kokett hinzu und machte eine
Kopfbewegung in Richtung des Hauses, das Goldstein gerade verlassen
hatte. »Kann aber noch werden.«
Der Polizist drehte
sich um und sah prompt Ilse Suttkowskis Kopf hinter der Gardine
verschwinden.
»Sehen Sie? Sie
dürfen sich nicht wundern, wenn Sie morgen hören, dass
wir ein Paar sind.« Die Siebzehnjährige lächelte
Goldstein an.
Erstmalig betrachtete
der Polizist das Mädchen nicht unter dem Aspekt, dass er eine
Zeugin vor sich hatte. Schlank, dunkelblond, hochgesteckte Haare.
Gleichmäßige, feine Gesichtszüge und grüngraue
Augen. Augen, in denen man versinken konnte. Lisbeth war eine
attraktive junge Frau. Goldstein ertappte sich dabei, dass er sie
mit Martha verglich. Lisbeths unbekümmertes Wesen, ihre
Offenheit unterschieden sich wohltuend von der Martha, die ihm in
den letzten Tagen so abweisend gegenübergetreten war. Wie es
wohl wäre, Lisbeths Haar zu streicheln und sie in den Arm zu
nehmen? Was er wohl zu sehen bekäme, wenn sie mehr als nur
einen Knopf ihrer Bluse für ihn öffnen
würde?
»Fünf
Pfennig für Ihre Gedanken«, rief sie und holte ihn in
die Realität zurück.
Er räusperte
sich. »Warum bist du mir gefolgt?«
»Ach, ich
weiß nicht, ob das wichtig ist. Aber ich habe mir
Agnes’ Tagebucheintragungen noch einmal genau
angesehen.« Sie zog das Buch hervor.
»Ich glaube, es
ist besser, wenn wir das nicht hier auf der Straße
machen.«
»Dann gehen wir
zu Martha. Ist sie zu Hause?«
»Ich glaube
nicht.«
»Egal. Sie wird
schon nichts dagegen haben.«
In Marthas Küche
öffnete Lisbeth das Buch. »Schauen Sie, hier.« Sie
zeigte mit dem Finger auf den Eintrag, in dem die Person namens W
zum ersten Mal erwähnt wurde. »Sehen
Sie?«
Goldstein las erneut
Agnes’ kindliche Handschrift: Heute Morgen habe ich W. am
Hemer Bahnhof getroffen. »Ja, und?« Er fand nichts
Besonderes an diesem Satz.
»Lesen Sie, wo
Agnes beschreibt, wie wir mit Wilhelm in Castrop
waren.«
Goldstein folgte der
Aufforderung und zitierte: »Wir waren in Castrop auf dem
Markt. W hat L und mir eine Tasse heiße Schokolade spendiert.
Ich weiß nicht, worauf du
hinauswillst.«
»Sie sind aber
begriffsstutzig. Sie sollen nicht vorlesen, sondern lesen.
Fällt Ihnen an den beiden Buchstaben W nichts
auf?«
Er stierte auf die
Seiten. »Wenn ich ehrlich bin, nein.«
Lisbeth
schüttelte den Kopf. »Im ersten Fall hat Agnes den
Buchstaben W mit einem Punkt versehen. Im zweiten
nicht.«
»Sicher ein
Zufall.«
»Das glaube ich
nicht. Lesen Sie weiter.«
Lisbeth hatte recht.
So wie es aussah, verbarg sich hinter ohne Punkt Wilhelm Gleisberg,
hinter W mit Punkt aber eine andere Person.
»Alle, die Agnes
beim Vornamen nannte oder duzte«, dozierte Lisbeth,
»werden ohne einen Punkt abgekürzt. Aber Herr
Schafenbrinck zum Beispiel wird als AS.
bezeichnet.«
Aufgeregt las
Goldstein weiter, hörte aber schon nach wenigen Sätzen
wieder auf. »Nein. Deine Theorie kann nicht stimmen.«
Er zeigte auf einen der nächsten Sätze. Mein erster
Liebesbrief!! Von J. stand da.
»Wieso?«
»Sie schreibt J
mit einem Punkt. Und sie wird Julian ja wohl geduzt haben, oder?
Und hier. Auch mit Punkt. Ach, J. Warum ist alles nur so
kompliziert? Eine schöne Theorie. Leider stimmt sie
nicht.« Als Goldstein dem Mädchen das Buch
zurückgeben wollte, stutzte er. »Warte.
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